Rezension: Rinaku, Regina: „Terka“

Gelöbnis eines ungarischen Mädchens. Entwicklungsroman
Verlag August von Goethe Literaturverlag, Frankfurt a. M., 2013
ISBN 978-3-8372-1279-2
Bezug: Buchhandel, Preis: 28,80 Euro

In diesem Frühherbst hatten wir mal wieder Südostungarn bereist und uns vieles angesehen. Darunter auch das Schloss Wenckheim, welches gerade renoviert wird. Die Geschichte des Schlosses habe ich sehr kurz in einem kleinen Bilder-Reisebericht auf unserer Homepage beschrieben (http://www.literatur.ungarisches-institut.de/wp-content/uploads/2013/10/Wenckheim.pdf).
Nach unserer Rückkehr lagen eine ganze Menge diesjähriger Neuerscheinungen zum Lesen bereit; eines der Bücher zog meine Aufmerksamkeit auf sich, war auf dem Titelbild doch das Kástely Wenckheim abgebildet.
Es erzählt die Geschichte der Kató Kiss, eines einfachen Landmädchens, genannt Terka, dessen Familie zu den Landarbeitern des Schlosses und Gutes Wenckheim gehörte. Leider wird im Buch die Vorgeschichte überhaupt nicht erwähnt, weshalb manches für den Leser einigermaßen befremdlich ist, vor allem der literarische Stil. Ich möchte daher alles, was ich dazu recherchieren konnte, vorausschicken. Dazu gehörte auch die Mitschrift eines auf „Schwyzerdütsch“ geführtes Interview.
Kató Kiss, im Buch die literarische Figur Terka, wanderte als junges Mädchen nach dem 1. Weltkrieg aus Ungarn in die Schweiz aus. Dort gelang es ihr, in Zürich ein Haute-Couture-Atelier zu eröffnen. Mit etwa 80 Jahren übergab sie ihrer Enkelin Regina Rinaku einen ganzen Karton voller Blätter mit dem Auftrag, viel zu lernen – und wenn sie, die Enkelin „groß“ sei, den Bericht zu revidieren und zu publizieren. Es handelte sich um 440 maschinengeschriebene Seiten – mit vielen handschriftlichen Notizen. Regina Rinaku unterzog das Buch, denn darum handelte es sich bereits, sieben Revisionen und unternahm einige Recherche-Reisen nach Ungarn. Bereits zuvor hatte sie sich mit der Geschichte Ungarns durch vielerlei Lektüre vertraut gemacht.
Was wir hier lesen, ist also der Text der Großmutter mütterlicherseits, sachte ergänzt und „verbessert“ von der Enkelin. Hier spricht ein junges Mädchen, ein Teenager, der die Welt kennen lernen will, sich und die Seinen ungerecht behandelt fühlt – und vor allem aus übervollem Herzen die Welt, namentlich ihre ungarische Welt, verbessern will.
Im Prolog lässt Terka den jungen Frühling im Jahr 1907 so richtig ausgelassen Feste feiern, doch seine Freude ist nicht die Freude der armen Gesindekinder: Eine Erkältungswelle mit einer Diphtherie-Epidemie ist die Folge. Viele Kinder sterben. Schuld daran sind auch Unterernährung und ungesunde Behausungen. Immer zwei Familien müssen sich ein Zimmer teilen; vier Familien eine Küche. Sie können weder richtig heizen, noch richtig lüften. Die gräfliche Familie im Schloss verfügt dagegen über mehr Zimmer als sie nutzen kann. Und im Gegensatz zu den Kindern der Armen, werden deren Kinder sehr schnell der tödlichen Gefahr entzogen. Terka erlebt das als 12 jähriges Mädchen mit. Immer wieder kommt die Erzählerin später auf dieses Thema zurück: auf die Armut, die Unterernährung, die schlechten Wohnverhältnisse. Für die Gesindekinder wird die Schule geschlossen. Stattdessen „dürfen“ sie im gräflichen Park unter der harten Hand und den wüsten Beschimpfungen von Aufseher und Verwalter Laub zusammenrechen. Terka ist froh, als sie die Schule wieder besuchen darf. Sie möchte lernen. Allerdings werden es dann nur noch drei Wochen bis zum Schulschluss sein. Dann sind die Kinder „erwachsen“ und müssen sich einen Beruf suchen.
Bereits im Prolog zeichnet Terka auch die Gestalten des gräflichen Ehepaars: Die gütige „mildtätige“ Gräfin Krisztina, die sich um ihr Gesinde sorgt und gern etwas tun würde – und der hochfahrende, in Österreich erzogene Graf Frigyes, welcher der Meinung ist, seinen Untergebenen ginge es gut genug, man müsse sie eher am kurzen Zügel halten. Sorge bereitet ihm nämlich, dass es immer mehr Landarbeitern (die eher wie Leibeigene gehalten werden) zu gelingen scheint, sich selbständig zu machen, winzige Häuser zu bauen, mit kleinen Gärten und eigenen Feldern. „Sie haben sogar eine Wochenzeitung herausgegeben und eine landwirtschaftliche Genossenschaft gegründet“. Hier deuten sich bereits die Konflikte an: Das Parlament in Wien hat seinen österreichischen Arbeitern bereits das Allgemeine Wahlrecht zugebilligt, aber in Ungarn soll so etwas nie und nimmer geschehen; nur die Magnaten besitzen das Wahlrecht, nur sie können über Wohl und Wehe des Landes Ungarn bestimmen.
Es ist die Zeit der großen Umbrüche: Auch in Deutschland erstreiten sich die Arbeiter das Wahlrecht, in Italien streiken die Eisenbahner, in England machen die Suffragetten von sich reden. Und es wird noch viel „schlimmer“ kommen.
Terka ist das jüngste von sieben Kindern. Der Älteste, Jani, ist 15 Jahre älter. Er hat eine Lehre als Maler gemacht und lebt jetzt mit seiner Frau in Budapest. Ihr nächstältester Bruder ist Gyurka, so rothaarig wie Terka. Er ist nur 1 ½ Jahre älter. Auch er hat eine Lehre gemacht, als Wagner, und geht in verschiedenen Ländern „auf die Walz“. Von dort schreibt er seiner Schwester begeistert Postkarten über deren Fortschrittlichkeit. Die Kinder haben ihre Mutter verloren, als Terka 3 Jahre alt war – der Vater hat dann wieder geheiratet und jahrelang die Hoffnung nicht aufgegeben, mit großem Fleiß soviel auf die Seite zu legen, dass er sich ein Häuschen mit kleinem Land kaufen könne, so wie es seine Eltern besaßen – doch umsonst.
1910, als Terka 15 Jahre alt ist, folgt sie, gegen den Widerstand ihres Vaters und der Stiefmutter, dem Drängen ihrer beiden Brüder, nach Budapest zu kommen, dort eine Lehre zu machen, um „jemand zu sein“. Terka will weg aus der Enge, will „aufsteigen“. Das ist ihr sehr wichtig. Und etwas ist ihr noch wichtiger: Das streng religiös erzogene Mädchen will ihre Brüder „dem Satan entreißen“. Der einfachen Bevölkerung wird nämlich immer wieder vom Klerus eingehämmert: Wer sich mit den Sozialisten und ihren aufrührerischen Ideen abgibt, der ist dem Satan verfallen. Vor allem wegen Jani macht sie sich Sorgen. Als er das letzte Mal zu Besuch da war, hatte er es sogar gewagt, das Parteiabzeichen der Sozialisten zu tragen. Etwas ganz Unerhörtes!
In Budapest lernt Terka das Schneiderhandwerk. Ganz allmählich wird aus ihrer anfänglichen Angst und Abneigung gegen die Sozialisten mit ihren „Umtrieben“ Verständnis und Zustimmung für deren Ideale und Ziele. Die wollen etwas ändern, wollen etwas für die arme Bevölkerung tun! Sie gründen Lesezirkel, laden zu Fortbildungsveranstaltungen und Diskussionen ein. Nach anfänglichem Sträuben geht auch Terka zu solchen Fachveranstaltungen und „diskutiert“ heißen Herzens mit Gott, dass der Sozialismus doch nicht so schlimm sein könne; denn jene, die sie kennen gelernt hat, setzen sich doch nur in christlicher Nächstenliebe für den Anderen ein. Aus dem einfachen, unwissenden Bauernmädchen wird nach und nach ein selbstbewusster Teenager, der mit wachen, neugierigen Augen und Ohren durch die Welt geht: Jani, ihr Bruder, hat eine klare Vorstellung von der Zukunft. Er ist nicht nur Anstreicher von Beruf, er malt auch in seiner Freizeit kleine Ölbilder, die er zuhause aufhängt. Er ist Kassier im Fachverein, bemüht sich um die Weiterbildung der Arbeiter und Angestellten, holt die jungen Leute von der Straße und aus den Wirtshäusern. Infolge eines Geburtsfehlers hinkt er – und ist deshalb auch während der ganzen Geschichte präsent. Er muss nicht in den Krieg ziehen, wie später sein kleiner Bruder Gyurka.
Klar, dass Rückschläge und Minderwertigkeitsgefühle auch in Budapest für Terka nicht ausbleiben. Wenn sie Zurücksetzung und Benachteiligung gegenüber den Armen bemerkt, erwacht sogleich ihre Kämpfernatur.
Der Leser erfährt von der Erzählerin viel über die gesellschaftliche Situation in Ungarn, viel über die weltpolitische Lage: Überall erproben die Massen ihre Macht und ihr aufkommendes Selbstbewusstsein denen gegenüber, die sie bislang kujoniert haben.
In der Gewerbeschule hört sich Terka selbst erstaunt die Sozialisten verteidigen. Immer wieder bricht dieses Rebellische aus dem sonst so zurückhaltenden bescheidenen Mädchen Terka Farago hervor, wenn ihre eigene Überzeugung angegriffen wird. – Immer und immer wieder regt sie sich über Ministerpräsident István Tisza auf, der den Ungarn das Allgemeine Wahlrecht verweigert.
Erst nach Beendigung ihrer Lehre fährt Terka wieder nach Hause. „Sie ist jetzt eine Handwerkerin, auf höherer Stufe. Jetzt verachtet sie niemand mehr“. Sogar einen Hut darf sie jetzt tragen! Im Haus der Schlossdirektion bekommt sie über die Sommermonate Arbeit als Näherin. Frau Direktor ist eine gütige Frau, welche die Standesunterschiede zu mildern sucht. Ihr Mann dagegen, der mächtige Direktor des großen Gutes mit über 150 Angestellten, ist dafür verantwortlich, dass für die gräfliche Familie alles perfekt läuft. Für seine Landarbeiter hat er, wenn etwas nicht klappt, nur Verachtung übrig. Für ihn sind sie „halbe Tiere“. Wütend macht er sich vor seiner Familie und Terka Luft. Diese Herabsetzung trifft die junge Frau zutiefst; denn zu dieser Schicht gehört ja ihr Vater, gehört sie selbst. Doch aus Angst, ihrem Vater zu schaden, wagt sie nicht, dagegen zu protestieren. Ein Leben lang wird sie diese voll Wut herausgeschleuderten Worte nicht vergessen können. Doch zu einer Aussprache kommt es nicht; das junge Mädchen ist noch nicht selbstbewusst genug.
Im Herbst 1912 verlässt Terka gereift die Puszta und gibt sich Rechenschaft: „Damals vor zwei Jahren bin ich zu meinen Brüdern gefahren, um sie aus den Klauen des Satans zu befreien, der Kirche wieder zuzuführen. Das Erlernen des Berufes war Nebensache gewesen. Jetzt ist alles anders. Ich bin voller Fragen. Was soll ich tun? Ich habe jegliche Aussicht verloren, Jani zu bekehren. Ich hab einiges vernommen, was er längst wusste. Was mir wirklich Angst macht: Langsam beginne ich, ihn zu begreifen. An ihrer neuen Stelle bekommt sie den letzten Schliff. Unter diesen günstigen Verhältnissen nimmt sich das Mädchen Großes vor: Sie will die Lebensbedingungen auf der Puszta verändern. Und sie weiß, dazu muss sie noch viel, viel lernen.
Österreich mobilisiert; die Balkankriege beginnen, der Streit ums Wahlrecht zieht sich hin. In diesem Durcheinander scheint die Schweiz wirklich das Muster an Demokratie, das gelobte Land zu sein. Gyurka beschwört sie immer wieder, in die Schweiz zu reisen, um dort zu lernen, wie sie helfen, wie sie ihren Landsleuten das Leben erleichtern könne.
Im Frühling 1914 nimmt Terka die Einladung an, am Internationalen Frauentag in Békéscsaba vor der Versammlung zu sprechen; die Menschen sind begeistert. Sogar Frau Gräfin wurde inkognito gesehen. Terka ist 18 Jahre alt.
Nach der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand wird am 1. August 1914 der Kriegszustand verhängt, Kriegserklärung folgt auf Kriegserklärung. Österreich-Ungarn glaubt, die Serben im Handumdrehen besiegen zu können; begeistert ziehen die Soldaten in den Krieg. Terkas Bruder Gyurka wird auf einem Ausflug von der Schweiz nach Österreich gefasst und in die Uniform gesteckt. Terka sieht ihn noch zwei Mal, bevor er fällt. Weil Terka ja irgendetwas „tun“ muss, tritt sie in die Sozialdemokratische Partei ein. In Gedanken feilscht sie mit Gott, dass es doch keine Sünde sein könne, in die Partei einzutreten. Es ist die Zerrissenheit der jungen Frau zwischen Tradition und Erziehung – und dem, was sie ihrem Ziel näher bringt.
Winter und Frühjahr 1917; Russland wird Republik, der Zar muss gehen. Graf Tisza wird aus dem Sitzungssaal geworfen. Im November geht Lenins Saat in Russland auf, die Revolution wird ausgerufen, die Bolschewiken siegen. Die Menschen, auch in Ungarn, sind aus dem Häuschen und tanzen auf den Straßen. Sozialdemokraten vieler Länder senden Glückwunschtelegramme nach Russland.
Die junge Terka meint dazu: „In Russland begann eine ganz neue Ära. Lenin und Genossen begannen, das unermesslich große und arme Russland zu demokratisieren, gehindert durch Angriffe vieler umliegender Länder“. Lenin wird als der „Friedensbringer“ gefeiert.
Die Friedensverhandlungen kommen endlich in Gang, ein Waffenstillstand wird geschlossen. Ungarn stöhnt schwer unter den Folgen des Krieges, niemand hat mehr genug zum Leben. Arbeiterräte werden gebildet, Volk und Studenten demonstrieren. Terka ist inzwischen 23 Jahre alt. Drei ihrer Brüder sind gefallen, zwei schwer krank und verwundet heimgekehrt.
Am 1. November wird der Krieg für beendet erklärt, am 16. November die Republik ausgerufen und Graf Károlyi Staatsoberhaupt, am 23. November 1918 endlich im Ungarischen Parlament das Allgemeine und Geheime Wahlrecht zum Gesetz. „Im Kampf der ungarischen Arbeiter für mehr Menschenrechte und Brot diente die russische Revolution entschieden als Ansporn und moralische Unterstützung“, ist Terka überzeugt. – Béla Kun gründet in Budapest die Kommunistische Partei; jüdische Intellektuelle, Studenten und junge Arbeiter schließen sich der alles versprechenden neuen Partei an…..Doch der Friede ist ferner denn je…
Im März 1918 lässt sich Terka von der Siegesgewissheit der Straße und dem Jubel anstecken und ist überzeugt, dass ab jetzt auch den Menschen auf der Puszta geholfen werden könne. – Jedoch die Rumänen überschreiten die Theiss und ganz Ungarn stellt sich gegen sie: Es lebe die Räterepublik! Als sie dann Budapest besetzen, fliehen einige Volkskommissare nach Wien, andere fallen der Rache zum Opfer.
„Drei Monate später ritt an der Spitze der Nationalarmee Admiral Horthy auf einem weißen Schimmel in die Hauptstadt. Er beherrschte die ungarische Sprache kaum.
Ein Jahr später, am 20. Juli 1920 unterzeichneten die Ungarn im Schloss Trianon einen Friedensvertrag, in dem sie auf zwei Drittel ihres ursprünglichen Staatsgebietes verzichteten“[…]. „Béla Kun rief die Ungarische Sowjetrepublik aus […]. In kurzer Zeit waren die Gefängnisse überfüllt, Privateigentum wurde eingezogen. […]. Eine Zeit des Terrors begann, schlimmer als jede Grafenherrschaft“.
Ein Jahr später, 1921, schafft es Terka in die Schweiz zu reisen – und Gräfin Krisztina verteilt Weideland an die Bewohner ihrer Siedlungen. Sie will ihren mittellosen Bauern Einkommen ermöglichen.
Das Buch ist spannend geschrieben; der Leser erfährt sehr viel über Politik und Gesellschaft, nicht nur in Österreich-Ungarn und über die Zeit der großen Umbrüche zwischen 1907 bis kurz nach dem 1. Weltkrieg.
Im Anhang gibt es ein Sachregister mit Ortsnamen, ungarischen Ausdrücken und ein Personenregister aus dem persönlichen Umfeld der Protagonistin, aus Personen der Dienstherren und der Politik.
Was aber unbedingt fehlt, ist ein Vorwort, wie die Autorin Regina Rinaku zur Geschichte ihrer Großmutter Kató Kiss kam.
Schön wäre auch ein Nachwort gewesen: Was wurde aus Terka? Hat sich die Schweiz wirklich als das „gelobte“ Demokratie-Land erwiesen? Und einige Anmerkungen dazu, wozu der hier im Buch noch „harmlos“ beginnende Kommunismus in Wirklichkeit geführt hat. Historisch nicht richtig ist nämlich: Die Beseitigung einer Diktatur ist nicht zwangsläufig die Einführung einer Demokratie. Auch wenn die junge, völlig unwissende und idealistisch gesinnte Terka das damals so gesehen haben mag. Aber als Frau Szabó in Zürich, Jahrzehnte später, muss sie gewusst haben, was aus dieser Revolution für das arme Volk Russlands geworden ist. Das hätte die Enkelin nicht so kommentarlos stehen lassen sollen.
Das würde für den heutigen Leser diesen interessanten historischen Roman abrunden, zumal man immer wieder feststellen muss, wie wenig der Westen von Ungarns Geschichte – insbesondere von der Geschichte nach dem 1. Weltkrieg – überhaupt weiß.

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