Rezension: Kertész, Imre: Letzte Einkehr. Tagebücher 2001 – 2009. Mit einem Prosafragment

Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm; Prosafragment „Die letzte Einkehr“ aus dem Ungarischen von Adan Kovacsics, voran gestelltes Gedicht aus dem Ungarischen von Ilma Rakusa
Verlag: Rowohlt; Reinbek b. Hamburg, 2013; ISBN: 978-3-498-03562-4
Originaltitel: Mentés másként, 2011
Bezug: Buchhandel Preis: 24,95 Euro

Über einen längeren Zeitraum habe ich mich mit diesen Tagebüchern befasst, habe anhand der Eintragungen Romane und Essays wieder hervorgeholt, Artikel und Reden von und über Kertész wieder gelesen.
Die Tagebücher sind in drei Abschnitte gegliedert, in die „Geheimdatei“: Januar 2001 bis November 2003, „Garten der Trivialitäten“: Dezember 2003 bis Juli 2009, anschließend zwei Seiten: „Exit-Tagebuch“, in dem er die wichtigsten Einträge von Ende Mai bis 29. Juli 2009 präzisiert. Dann bricht das Tagebuch ab: „Es gibt keinen anderen Ausweg für mich als den Abgang (Exit) …“. Vor der „Geheimdatei“ ist das Fragment „Letzte Einkehr“ eingeschoben. Daraus hätte noch einmal ein Werk, eine schonungslose Abrechnung seiner Selbst werden sollen, doch das konnte Kertész wegen seiner schweren Krankheit nicht zu Ende bringen.

Als Leserin kann ich gar nicht anders, als atemlos Eintrag um Eintrag zu verfolgen: Kertész’ Schreibblockaden, seine Verzweiflung darüber, oder das Gefühl, umzingelt zu sein, nicht ausbrechen zu können, keine Zeit mehr zu haben. Ich weiß ja schon, dass „Liquidation“ fertig wurde, gleichzeitig publiziert in Deutschland und Ungarn – ich weiß ja schon, dass „Die exilierte Sprache“ auf Deutsch erschienen ist – ich weiß ja schon, dass er den Nobelpreis für Literatur erhält. …
Als Leser schließt man diesen Menschen ins Herz, der so sensibel und verletzlich ist, sich die Anfeindungen zu Herzen nimmt, der kämpft, am Boden zerstört ist – und gleich darauf wieder triumphiert, wenn die Figuren seines Romans an Leben gewinnen und überzeugen

Schon am 1. Januar 2001 weiß der Autor um seine Parkinson-Erkrankung; die Handschrift wird unsicher; er ist gezwungen, sich ein Laptop anzuschaffen. Teils ironisch, teils deprimiert kämpft er mit der Technik.
Unbedingt möchte er noch weitere Werke beginnen und zu Ende bringen; er arbeitet an „Liquidation“, gerät öfter ins Stocken, die Figuren versagen sich ihm; er ist verzweifelt, möchte alles hinschmeißen – und fängt doch immer wieder von vorne an. Seine abnehmenden Kräfte, Manneskraft, Körperkraft, Vorstellungskraft, ständige Schmerzen, Schlaflosigkeit, große Müdigkeit, das Gefühl, sein Talent habe sich vor ihm zurückgezogen, lassen Todessehnsucht, ja Selbstmordgedanken in ihm aufkommen. Dazu gesellt sich die alte Angst vor einem neuen Holocaust durch den stärker werdenden Antisemitismus in Ungarn, ja in ganz Europa. Kertész ist überzeugt, dass die Welt die Juden ganz und gar austilgen will: Europa gewinnt seine bürgerlichen Werte, die es wegen Auschwitz verloren hat, nicht wieder zurück, weder Mitmenschlichkeit noch Freiheit. Dafür haben feige Anpassung, Macht und Wirtschaft Konjunktur: „Alles ist auf der Strecke geblieben – das ist das Grundgefühl, das mich begleitet. […] Die Möglichkeit der Revolution, jeder neuen geistigen Bewegung überhaupt. Die Zukunft, die geistige Zukunft ist auf der Strecke geblieben […]. Die Macht, jede Macht, ist auch heute illegitim. […] Ist Erneuerung noch möglich? Was ist meine Aufgabe, als Mensch, als Künstler?“
Die ungarische Gesellschaft weist ihn und sein Werk zurück, d.h., er findet kaum Beachtung, dabei ist er sich sicher, dass er gerade ihr so viel zu sagen hätte, ja bereits gesagt hat. In Deutschland fühlt er sich verstanden. Kertész überlegt sich, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Überdies stört ihn die große Familie seiner zweiten Frau, die Geburt des Enkels, um den solch ein Getue gemacht wird. Er ist nun mal kein Familienmensch, mit Kindern kann er nichts anfangen. Vorläufig bereitet er sich darauf vor, Ungarn zu verlassen und nach Berlin umzusiedeln. Seine Frau geht mit ihm, was noch viele Konflikte mit sich bringen wird: Sie verlässt für ihn ihre Familie und geht mit nach Deutschland, ohne die Sprache zu beherrschen. Der Schriftsteller in ihm möchte aber am liebsten in Ruhe gelassen werden und nichts als schreiben. Neben „Liquidation“ arbeitet er am Drehbuch für die Verfilmung von „Roman eines Schicksallosen“ – „Fateless“. Das lenkt ihn ab; gleichzeitig hat er das Gefühl, „dass alles falsch – falsch ist“. Dazwischen wieder Ausbrüche großer Lebensfreude und Glück beim Schreiben.
Bei Magda wird Drüsenkrebs festgestellt. Kertész mutmaßt, dass ihnen furchtbare, leidvolle Zeiten bevorstehen werden. Das Ehepaar beschließt, die Sache gemeinsam durchzustehen. Von da an analysiert er immer häufiger, wie sehr er am Leben hängt, spielt aber gleichzeitig mit dem Gedanken an Selbstmord. Immer wieder fragt er sich, warum er nicht schon früher seinem Leben ein Ende gemacht hat. Antwort: „Weil es mir Leid täte, einen Schriftsteller zu töten, der sich noch mit Plänen zu einem Werk trägt“ – Also hofft er immer noch auf sein Werk.
Als das Gerücht aufkommt, er bekomme den Literaturnobelpreis, sagt er „[…] ich schreibe über Auschwitz, aber man hat mich nicht dazu nach Auschwitz gebracht, damit ich den Nobelpreis bekomme, sondern damit ich umgebracht werde“. – Ein Jahr später, 2002, erhält er dann den Literaturnobelpreis. Ungläubig nimmer er ihn entgegen, hatte er doch vor allem in Ungarn kaum Anerkennung, eher abgrundtiefe Ablehnung erfahren – andererseits regt sich in ihm auch das Gefühl, dieser Preis stünde ihm zu; denn er hat mit seinen Werken der Menschheit etwas zu sagen. Absurd das Eine, wie das Andere: „Doch irgendwie stehe ich dem Ganzen fern und weit außerhalb, ein echtes „ Ich – ein anderer“-Erlebnis. In der Folge wird er herumgereicht auf Kongressen und Gedenkfeiern, zu Interviews und Lesungen eingeladen. Dabei bemerkt er, dass er allen nur als Autor des „Roman eines Schicksallosen“ gilt. Selbst seine ungarischen Freunde haben seine anderen Werke nicht gelesen: „Es ist mir unmöglich zu glauben, dass ich mit jenem Imre Kertész identisch bin, der in gewissen Kreisen als vielgelesener Autor und glaubwürdige Person gilt. Ich fühle mich wie ein Scharlatan, ein Hochstapler“. Bei alledem fehlt ihm das Schreiben so sehr, dass er fast krank wird.
Trost, Erleichterung und neuen Mut schöpft er sein Leben lang immer wieder aus der Musik, hauptsächlich von Mahler, Beethoven, Schönberg. Nächtelang, wenn er nicht schlafen kann, hört er sich ihre Werke an. Es ist bemerkenswert, mit wievielen Musikerpersönlichkeiten er bekannt und befreundet ist.
Der Schriftsteller Kertész fühlt sich nur als vollwertiger Mensch, wenn er schreiben kann (und darf); er definiert sich allein über sein Autorentum. Alles andere, der ganze Rummel, der um ihn, mit ihm und für ihn veranstaltet wird, gilt nur der öffentlichen Person. Ständig versucht er sich zu entziehen, weil er genau weiß, wie seine schriftstellerische Arbeit darunter leidet, doch einerseits scheut er sich, mit einer Verweigerung Menschen, auch seine Frau Magda, zu verletzen, andererseits, behagt ihm dieses Leben, das er im Alter genießen darf, das gute Leben, die Reisen, die Wertschätzung seiner Person, die vielen Begegnungen mit bekannten Persönlichkeiten – fast ausschließlich im Westen. Die schwierige Freundschaft mit Ligeti, durch die er sich zuerst so geehrt und angenommen gefühlt hatte, belastet ihn. Ligeti kann nicht über seinen Schatten springen, und dem Freund einfach herzlich gratulieren: „[…]. Gestern Abend rief ich Ligeti an, er war sofort verstimmt, weil ich „kokett“ über den Preis spräche. Aber Auschwitz und Nobelpreis sind nun mal ziemlich schwer in Relation zu bringen. Schließlich war es nicht so abgemacht, dass ich sechs Jahrzehnte später einen Literatur-Nobelpreis erhalte, eine Absurdität, die allein mit Ironie zu überbrücken ist. Das bedeutet nicht, dass ich mich nicht freue – trotzdem, ich glaube, ich habe noch nicht begriffen, was mir geschehen ist“.
Gleichzeitig geht die Hetze in Ungarn gegen ihn los: „Noch nie habe ich in meinem Leben soviel Niedertracht erfahren, wie seit der Verkündigung meines Nobelpreises. Als wäre der Preis nur dazu da, das Fenster zu den bodenlosen Tiefen der Gemeinheit aufzustoßen, Judenhetze von Nazis; Judenhetze von Juden […] Die Maschinerie; diese zu meiner Zerrüttung geschaffene Maschinerie; in Form von Presse und Öffentlichkeit hetzt sie mich an die äußerste Grenze meiner Kraft. Jeder dreht ein bisschen am Räderwerk, das mich langsam erwürgt, zerquetscht, verschlingt“. Seine Romane werden plötzlich zu Hunderttausenden verkauft, Glück, Stolz, aber auch der wache Sinn für die immer größer werdende Gefahr, dass diese „Glückskatastrophe“ ihn ganz und gar verschlingen wird. „Ich ersticke an der falschen Ehrfurcht, der Liebe, dem Hass und der mir zugedachten öffentlichen Rolle“.
Kaum ist „Liquidation“ fertig – 13 Jahre lang hat ihn das Werk beschäftigt – vom ersten Einfall an gerechnet, „der letzte Blick, den ich – vor dem Abschied – auf Auschwitz richte“.– wirft er sich in die nächste Arbeit: „[…] Das Leben ohne Roman. Als wäre ich beraubt worden. […]“. Er greift eine Idee auf, die schon lange in ihm rumort: „Der Einsame von Sodom. […] Sollte mir also die Gnade gewährt werden, könnte ich einen großen, zusammenfassenden Roman schreiben[…]“
Doch noch zweifelt er; die Ansprüche, welche das öffentliche Leben an ihn stellt, überfordern den sensiblen Künstler: „Eine ganze Weile schon kann ich meinem Leben nicht mehr folgen, das sich mit kometenhafter Geschwindigkeit von mir entfernt, während ich verwundert hinterherstarre, wie es immer kleiner und kleiner wird: bald wird es kaum noch wahrnehmbar sein am Horizont, dann drehe ich mich auf dem Absatz um und mache mich mit verzagten Schritten auf den Weg nach Haus“. Kertész’ Gedanken kreisen immer wieder um ein letztes Werk: „Ein radikal persönliches Buch, bis schließlich nichts mehr übrig bleibt. Den Weg zu Ende gehen, im wortwörtlichen Sinn. Die Figur zerrütten, zermalmen, zernichten. Aber möglichst ohne jede Erklärung, vor allem ohne jede sogenannte Philosophie.“
Im zweiten Teil der Tagebücher, scheint es ihm nötig, ein „Trivialitätenbuch“ zu führen. Und das unterscheidet sich von der „Geheimdatei“ ganz wesentlich: Hier schreibt er alles auf, was ihm durch den Kopf geht, „schreib alles auf, damit du nichts vergisst…“. Es soll der Fundus für dieses radikale Werk sein.
Nicht nur ein Mal sehnt er sich in dieser Zeit nach den 40 Jahren Abgeschiedenheit zurück. Nur, dass er das damals nicht erkannt hatte, aber jetzt weiß er, das waren seine glücklichsten Jahre, in denen er zunächst nur für sich geschrieben hatte. Sich Auschwitz von der Seele schrieb. „Allmählich wenden sich alle meine Absichten und Bestrebungen gegen mein eigenes Leben“. Die Schlinge zieht sich zu, der Kreis wird enger, umzingelt von der wohlmeinenden, neugierigen Gesellschaft, die Statements zu allem Möglichen aus ihm herausziehen will, zur Politik Israels, zu Auschwitz natürlich, zum Antisemitismus in Ungarn: „Ich führe einen vergeblichen Kampf um meine Integrität: Journalisten und sonstige Medienleute verfolgen mich im wahrsten Sinne des Wortes, wollen aus mir eine Sprechmaschine machen“.
„[…] Meine einzige Identität ist die des Schreibens. Wer ich sonst bin? Wer wüsste es?“
Immer wieder kehrt aber auch die Lebensfreude zurück – sein Lebensüberdruss, die Selbstmordgedanken lösen sich ab von der Furcht, sein Werk nicht vollständig für die Nachwelt zu hinterlassen, nichts richtig fertig gebracht zu haben – der Wunsch, noch einmal ein wichtiges Werk zu schreiben, noch ein allerletztes Mal etwas Wesentliches zu sagen, vor allem noch einmal in einen Schaffensrausch zu verfallen. Seine Gedanken kreisen obsessiv um „Letzte Einkehr“ – wie das neue Werk heißen soll -: Warum muss er auch dieses letzte Buch noch schreiben. „[…]Ich gelange nicht zu der nackten Wahrheit. Ich weiß nicht, was die nackte Wahrheit der Letzten Einkehr ist. Vielleicht die Ironie, wie mich der Literarische Hauptgewinn erreicht und vernichtet“ – „[…]: Die Letzte wird ein gnadenloses Buch, und es wird nur dann ein Buch daraus, wenn es gnadenlos wird“.
Erlösung bringt vorerst ein neues Projekt, ein Gesprächsbuch, „Dossier K.“ Endlich kommen Schöpferkraft und Kreativität zurück: „Ich genoss es wie ein Tier, das sich von der (Stil-)Leine seines strengen Herrn (Letzte Einkehr) losgerissen hat und nun frei auf offnem Feld herumrennt. […]“. Doch im Hinterkopf lässt ihn sein Projekt „Letzte Einkehr“ nicht zur Ruhe kommen: „Ich muss die Geschichte eines Erkaltens, eines Leerwerdens schreiben. Wie das Schreiben vergeht, wie die Liebe vergeht. Wie das Leben vor den Augen des Helden entfliegt“.
Im Gegensatz zum Film „Fateless“ wird „Dossier K.“ ein voller Erfolg – großer Gefühlsumschwung!
„[…].Der Zauber der Fremdheit. In letzter Zeit liebe ich mein Leben, und ich bedaure, dass es schon seinem Ende entgegengeht“. Und: „Ich nehme jedes Zeichen von Zuneigung mit kindlicher Freude auf; nie werde ich jener gleichmütige Fremde sein, als den ich mich selbst erträumt habe“.
Rastlos stürzt er sich im Januar 2006 erneut in die Arbeit. Er will den Stoff „Letzte Einkehr“ endlich packen: „Am frühen Morgen habe ich mich für die Fortsetzung der Letzten Einkehr entschieden; es wird noch radikaler, als ich es begonnen habe; es wird ein Todestagebuch“.
Kertész nimmt dazu eine alte Idee auf, die Idee vom „Sodomer“, Lots Geschichte im 21. Jahrhundert. Er will diese Geschichte mit „Letzte Einkehr“ verschmelzen. „Die letzte Einkehr, opus magnum ultimum … Die Geschichte meines Todes …“
Und fast von selbst schreibt er die Erzählung. „Dr. Sonderberg“ aus sich heraus, in der NZZ zu seinem 80. Geburtstag, am 9. November 2009 abgedruckt. Es ist wirklich sehr schade, dass Kertész wahrscheinlich diesen Roman nicht fortführen und beenden kann; denn darin gelingt es ihm, das merkt man bereits nach den wenigen Seiten, die Fäden seiner offenen Projekte zu verknüpfen. Er Erzähler und „Gesprächspartner“ lässt Dr. Sonderberg in einem einzigen großen Monolog sich Gedanken machen über den Niedergang, die Auflösung. Kertész ist glücklich bei der Arbeit: „[…] Lohnt es, wegen eines guten Satzes, eines Gedankens aus dem Bett zu springen? Noch lohnt es. Und solange es lohnt, hält mein Leben an.“
Die Eintragungen im Tagebuch werden allerdings immer weniger. Schaffensfreude wechselt mit tiefer Verzweiflung ab: „Ich habe Angst vor dem Tod, andererseits könnte ich mir nichts Realeres an Stelle dieses qualvollen Dahinvegetierens wünschen.- […] Das Leben ist banal, katastrophal und schön“.
Und 2009: „Nun auch bis zum Ende. Die unvorstellbare Trostlosigkeit des Verfalls […] Ich habe keine Kraft mehr, keine Lust. Ich habe ein „Exit-Tagebuch“ eröffnet“ …

Kertész schließt sein „Exit-Tagebuch“ mit nur wenigen Eintragungen. Die beiden letzten: „18. Juli: Ich hatte immer ein heimliches Leben, und immer war das das wahre“. „29. Juli: Es gibt keinen anderen Ausweg für mich als den Abgang (Exit) …“

Im Fragment „Letzte Einkehr“ zieht Kertész, zwischen Fiktion und Wirklichkeit das Resümee weniger seines ganzen Schriftstellerlebens, sondern eher seines Verfalls als Mensch – und wie er es sieht, auch als Künstler. Aufstieg – Glanz – und Verfall. Auch dieses Fragment hat sich Kertész, mehr noch als die vorangegangenen Werke, in zähem Ringen, erarbeitet. In der dritten. Person sieht er sich als Schriftsteller „B“ (B. ist nicht der erste Schriftsteller in seinen Werken, der an seiner Statt ein Leben lebt, das er selbst nicht so leben oder beenden kann). Auch er, B, erkrankt an Parkinson, hält alles minutiös fest „Notiere alles (Was du nicht vergessen hast)“. Der allwissende Erzähler im Hintergrund betrachtet ihn kalt und unpersönlich: … schreibt er; …notiert er …usw. Man hat den Eindruck, er belauere sich selbst, spioniere sich aus, jeder Gedanke, jede Handlung wird einer Prüfung unterzogen. „Letzte Einkehr“ soll die „Generalprobe“ zu seinem Ende sein.
In schnellem Szenenwechsel entführt B uns und sich selbst zu den wichtigsten Daten und Erkenntnissen seines Lebens nach der Wende: „Tatsache ist, dass ich erstaunt den Reichtum meiner alten Probleme betrachte. Und entsetzt die Geschwindigkeit des Verfalls …“ (schreibt er.) Sei dir darüber im klaren“, schreibt er in das ständig mitgeführte Heft, „dass du verschwinden wirst […]. Deine Muttersprache verstößt dich, und dort, wo du noch etwas zu sagen hast, wird man dich bald nicht mehr verstehen. Du musst ernsthaft damit rechnen, dass alle deine Anstrengungen umsonst waren […]“. Und: „[…]. Der Himmel schweigt und meine Umgebung, mein Organismus arbeiten still an meiner Auslöschung“, schreibt er in sein Notizheft“.
Kertész, der Schriftsteller, analysiert, warum er die Figur „B.“ eingeführt hat: „Unter den Papieren findet er eine Notiz: Die Figur zerrütten, zermalmen, zernichten. […] – Kann es sein, dass er töten muss, um sich selbst mit dem Tod anzufreunden? […] Er muss sehen, wie die Natur funktioniert, damit er lernt, sie nachzuahmen und schließlich zu akzeptieren[…] Diesen B. hat er also auserkoren, um ihn als Vorposten in den Tod zu schicken“. – „Die Frage ist: Inwieweit kann es einer aus Worten bestehenden Figur gelingen, ein aus physischen Tatsachen bestehendes menschliches Wesen zu verkörpern […] Er erinnert sich, dass ihn, kaum dass er der Kindheit entwachsen war, dieses Problem zu beschäftigen begann. Er wollte sein Leben sofort auf eine aus Worten erstehende Figur abwälzen, die ihn verkörpern könnte“ „[…] die Leidenschaft der Liquidation“ (so der Erzähler).
Vielleicht kann man sich das so vorstellen: Damals in Auschwitz ist seine Liquidation nicht gelungen – nun muss er sie selbst vollbringen, und zwar, nachdem er zuerst einen „Stellvertreter“ in die „Generalprobe“ schickt, eine „Figur aus Worten“. die lebendig-überzeugend wirkt. Sie soll für ihn ausloten, wie es geht mit dem totalen Verfall, dem Ausgelöschtwerden – und schlussendlich mit dem Tod. Sie soll ihm „vorspielen“, wie sein Lebensweg zu Ende gehen wird, damit er selbst, er, der reale Mensch, darauf vorbereitet ist, wenn es soweit kommt.
Das ist ihm ja wohl nicht mehr gelungen, auf Grund seiner schweren Erkrankung. Darum ist es bei dem Fragment geblieben. Aber man sieht schon, dass er aus den Spitzen seiner Eintragungen das Leben dieses B. gestalten will, bis zum bitteren Ende. Und nun ist es so, dass er diesen Weg ohne Generalprobe, ganz allein, sein eigener Vorreiter, gehen muss – wenn, ja wenn es ihm nicht doch gelingt, auf irgendeine Weise diesen B, diesen Mann aus Worten vor sich hergehen zu lassen.
Fazit:
Wer sich eingehend mit Kertész beschäftigen will, dem sei dieses Buch empfohlen, entweder als Einstieg; man kann bei einem Tagebuch ja fast jederzeit Pause machen – und in diesen Pausen die dazugehörige Literatur, Romane, Essays, Reden usw. lesen, oder, wenn man, wie ich, schon alles (was es auf Deutsch gibt) gelesen hat, diese Literatur, auch die Reden usw. noch einmal lesen, mit ganz anderen, tiefer dringenden Augen und größerem Verständnis.
Ein großer Gewinn ist es auf jeden Fall, sich mit diesen Tagebüchern des Menschen und Autors Kertész (wieder) anzunähern, der uns in seinen Schriften eigentlich nichts anderes sagt und vor Augen führt, was die Macht mit einem machen kann – und wie man der Macht ausgeliefert ist, selbst wenn man schwache Versuche macht, sich ihr entgegenzustemmen. Wie die Macht die Vergangenheit eines Menschen zernichtet, aber auch die Zukunft, wie sie den Mensch zum schicksallosen Wesen macht. Aber auch, was die Macht aus denen macht, die sie bekommen oder sich nehmen; nach wie vor das Problem der ganzen Gesellschaft: Macht – Machtaneignung – Machtmissbrauch – und Machterduldung. Und wie kommt Europa aus diesem totalen Verlust der Werte heraus, ist Umkehr durch Katharsis möglich, ist ein Neuanfang überhaupt möglich??

Print Friendly, PDF & Email
Dieser Beitrag wurde unter Kertész, Imre - "Letzte Einkehr. Tagebücher 2001 - 2009. Mit einem Prosafragment" veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.