Rezension: Rakusa, Ilma – „Aufgerissene Blicke“

Berlin-Journal
Verlag Literaturverlag Droschl, Graz – Wien
ISBN: 978-3-85420-836-5
Bezug: Buchhandel, Preis:16,00 Euro

„Es gibt Orte, die einen ansprechen, und andere. Berlin hat mich immer angesprochen. Es sprach zu mir, als es geteilt war, es hat nicht aufgehört, zu mir zu sprechen.“
Ilma Rakusa war ein knappes Jahr, von Oktober 2010 bis Juli 2011 einer der umsorgten Gäste des Wissenschaftskollegs (Wiko) in Berlin. Schon 10 Jahren zuvor hatte sie sich notiert: „Die Stadt ist im Umbruch, wie ich“. –Und heute: „Daran hat sich nichts geändert“.
Die Autorin nutzt diese Monate ausgiebig, um neben ihrer eigenen Arbeit im Wiko viele Plätze in Berlin wieder- oder neu zu entdecken. Sie nimmt sich Zeit, neugierig hinter Ecken und in Hinterhöfe zu schauen, das Leben auf sich zukommen zu lassen. Und so spielt auch manch schöner „Zufall“ mit, um lange nicht gesehen Bekannte und Freunde unvermutet zu treffen. Dieses Berlin-Journal, wie es im Untertitel heißt, ist kein Reiseführer zu den interessantesten Orten Berlins – und soll es auch nicht sein – sondern Rakusas ganz persönliche Begegnung. „Berlin ist für mich ein Scharnier zwischen Ost und West geblieben, eine Stadt, die mir meine Herkunft aus dem Osten bewusst macht und gleichzeitig Zukunft bereithält, ist sie doch ständig im Umbruch, unterwegs zu sich selbst….“
Die privaten Spaziergänge trennt sie sorgfältig von ihrer Arbeit im Wiko. Nur zuhause, in ihrer kleinen Wohnung in Berlin-Mitte – und meist am Wochenende macht sie Eintragungen lässt die Bilder der Woche Revue passieren, Eindrücke und Begegnungen nachwirken.
Ilma Rakusa ist geradezu begeistert von der Vitalität der Stadt, für das Nichtperfekte, das Zufällige, das nicht Fertige in Berlin, das ständig im Wandel Begriffene – und vermittelt dabei (ungewollt) doch den Eindruck, sie müsse die Stadt gegen Nörgler verteidigen. Berlin selbst scheint sie aufzufordern, sich auf die Stadt einzulassen. Was sie auch tut „schon seiner Großzügigkeit wegen“.
Ganz anders hat die Rezensentin Berlin erlebt: ständig aus Papptellern futternde und „Café to go“-trinkende Berliner (nicht Touristen). Junge Berliner, die sich im Gedränge hinter uns unterhielten: „Ich kann die Schwaben überhaupt nicht leiden – aber am meisten hasse ich die Bayern!“…
Da tut es gut und macht neugierig auf ein anderes Berlin, auf ein Berlin der Intellektuellen und Künstler: Begeistert ist die Autorin von Friederike Mayröcker, deren Bücher sie auch in Berlin liest – und die ihr geistiger Dialogpartner ist, wie sie in einem Interview auf der Leipziger Buchmesse bekennt. Häufig stellt sie Zitate der Dichterin in den Text.
Auffällig sind die vielen Begegnungen mit Menschen aus dem Osten. Seien es Schriftstellerfreunde wie Péter Esterházy, Imre Kertész oder István Kemény (nur wenige nennt sie mit vollem Namen), seien es Filmemacher, Theaterregisseure oder Dichter. Rakusas Affinität zum Osten ist unübersehbar. Ist sie doch selbst in der Slowakei geboren, als Tochter einer ungarischen Mutter und eines slowenischen Vaters. Sie ist viel herumgekommen, spricht viele Sprachen – außer ihrer Muttersprache Ungarisch auch einige slawische. Immer zieht der Osten sie magisch an – und nicht nur der europäische.
Eine lange Aufzählung von aktuellen Tagesnachrichten, wie der rote Giftschlamm von Kolontár in Ungarn, die Rettung der chilenischen Bergleute, der „Arabische Frühling“, der nun in einen islamischen Winter umzukippen scheint, das Unglück in Fukushima, Osama Bin Ladens Tod, der Amoklauf des Norwegers Breivik, die Gefangennahme Mladics, der Beginn des Syrienkrieges, lassen uns, nach nur knapp zwei Jahren, fragen: Ist das alles erst so kurz her?? Bei der Fülle der Nachrichten scheint dies schon eine kleine Ewigkeit weit weg zu sein. Und gleich darauf fällt Rakusa die Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert an: Schon bei ihrer Ankunft: Gleis 17 des ehemaligen Güterbahnhofs: Von dort wurden 50.000 Juden in die Todeslager deportiert. Sie geht weiter – durch Villenviertel. – Glanz und Elend der Stadt, wo auch heute noch Einschusslöcher zu sehen sind, wo überall die Geschichte des letzten Jahrhunderts durchschimmert. Rakusa ist eine Voyeurin, die überall hin schaut, sich hier und dort von Impulsen leiten lässt – und dabei nicht selten wieder eine zufällige Begegnung macht. (Ich hätte mir gewünscht, dass sie noch etwas mehr hinter die Fassaden – und damit auf diese traumatische Geschichte schaut). „Berlin ist überlagert – an jeder Ecke eine neue Geschichte oder eine alte Erinnerung“.
In leichtem Plauderton – das Buch ist auch eine Geschichte der Jahreszeiten in Berlin – lässt sie nicht nur Historie und Gegenwart anklingen – sie erzählt auch im gleichen Atemzug (etwas zu belanglos) von Armut und Hinfälligkeit, von Obdachlosen, denen sie begegnet – dann begeistert sie sich wieder für junge, fröhliche Familien mit ihren Kindern, trifft Freunde mit ihren Geschichten: Ja, Berlin ist eine Stadt, in der sich Viele und Vieles trifft. „Lass die Dinge durch dich hindurchfließen und aus dir heraus“.
Verschiedene Situationen geben ihrer Fantasie Nahrung (Stoff für eine neue Erzählung?). Ganze Familiengeschichten breitet sie zwischendurch vor uns aus.
Sie besucht Galerien; darunter eine Ausstellung des Künstlers Ai Weiwei, der damals im Gefängnis saß, eine Retrospektive des Fotokünstlers André Kertész. Sie trifft sich mit Künstlern aus der ganzen Welt, geht ins Theater und Kino, ins Konzert, fiebert in einer Kneippe mit für die Spielerinnen bei der Frauenfußball-WM – und hält mit ihrer Freundin den Japanerinnen den Daumen. Sie hört Vorträge, besucht Museen, auch solche, die nicht auf dem üblichen Touristenplan stehen, besucht Friedhöfe und Kirchen. Eine prall gefüllte Zeit!
Neben Mayröcker und anderen liest sie Márais Bekenntnisse eines Bürgers, über seine Kindheit in Kaschau, seinen Aufenthalt in Berlin, wo er sich sorgenfrei und leicht gefühlt hatte.
Assoziationen steigen in ihr auf beim Anblick der lichthellen Oranienburger Straße zum Licht in St. Petersburg, als sie dort ein Studienjahr verbrachte.
„Aufgerissene Blicke“ sind nicht aufgerissene Augen – obwohl das auch sein könnte, bei all den Begebenheiten, die sich darbieten. Die „Flaneurin“ blickt – und vor ihren Blicken reißt immer wieder etwas auf – die Vergangenheit, die jähe politische oder katastrophische Gegenwart, die flirrende Schönheit eines frisch gewaschenen Frühlingsmorgens. Es ist, als wenn immer wieder ein Vorhang etwas beiseite geschoben würde.
Das Berlin Journal gleicht eher einer Aufzählung von Eindrücken, von Begegnungen, von politischem und gesellschaftlichem Geschehen, von Wetterfühligkeit und persönlichem Befinden. – Auch ihre dazwischen gestreuten Fotos sind ungewohnte, aufgerissene Blicke, bzw. Blickwinkel: Vorhang zur Seite – und „klick“ – Schnappschuss.

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