Rezension: Raile Stefan – „Letzter Abschied”

Roman
Verlag quartus-Verlag, 2011
ISBN: 978-3-936455-11-3
Bezug: Preis: 12,90 Euro

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Nach den Türkenkriegen Ende des 17. Jahrhunderts holte Kaiserin Maria-Theresia deutsche Siedler nach Südungarn, in die Gegend um Pécs. 250 Jahre lang lebten sie mit Ungarn und anderen Volksgruppen gut zusammen, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Da wurden alle Ungarndeutschen kollektiv zu faschistischen Staatsfeinden erklärt, sehr viele aus ihren Häusern vertrieben und „umgesiedelt“. 300 000 Ungarndeutsche mussten, in Güterwaggons gepfercht, in Richtung Deutschland fahren, mit nichts als einem Bündel in der Hand. Aber nicht nur die Deutschen, sondern auch Tausende Ungarn aus Tschechien, Székler aus der Bukowina und Ukrainer aus Polen wurden nach der Potsdamer Konferenz in „ihre Mutterländer umgesiedelt“. Die Folgen dieser Vertreibungen zeigen ihre Traumata bis heute in die nächste und übernächste Generation.
Auch Stefan Raile drängt es immer wieder, über sein immerwährendes Trauma, die Abschiebung aus seinem Kindheitsparadies, aus dem Dorf Waschkut (ung. Vaskút), im Jahre 1947 zu schreiben. In seinen vorangegangenen Romanen, Dachträume, 1996, erinnert er, wie er nach dem Krieg „aus dem vertrauten Dorf am Rande der Puszta“ vertrieben wurde und ein neues Leben in der „sächsischen Stadt am Fluss“ (Görlitz), unter harten Bedingungen begann. Er sorgte sich bereits damals, dass die Erinnerung nachlassen, die heimische Mundart ihm abhanden kommen könnte, das Wissen um Sitten und Gebräuche der alten Heimat von einer neuen Kultur überlagert würde. Der zweite Roman, Die gehenkten Puppen, erschienen 2001, beschreibt die Vertreibung der Ungarndeutschen aus dem Blickwinkel des Kindes. „Jani“. Da fällt es ihm bereits schwer, seine Briefe auf Ungarisch zu schreiben. „Während dieser Zeit hat sich bei mir viel verändert“. Im dritten Roman, Die Melone im Brunnen, 2004, greift Raile das Thema der Erinnerung wieder auf; denn nur sie ist ihm geblieben, mitsamt der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben im Dorf und seiner vertrauten Gesellschaft. 2005 folgt Im Staub der Jahre. Bereits hier setzt er den Dorfleuten, die durch Krieg und Vertreibung so schwer leiden mussten, ein Erinnerungsdenkmal, aber auch denen, die bleiben durften, allerdings unter erschwerten Bedingungen. Hier schon reflektiert er die politischen Hintergründe in Vergangenheit und Gegenwart.
In seinem neuesten Roman Letzter Abschied, verstärkt sich dieser Zug noch: Nun, in reifem Alter, überblickt der Autor sein Leben, erkennt Zusammenhänge aus der Geschichte. 60 Jahre nach der Ausweisung kann er sein Dorf wieder besuchen, sein erster Kurzbesuch liegt schon weit zurück, 12 Jahre nach der „Aussiedlung“. Nun möchte er mit sich und seinem Leben ins Reine kommen, Frieden schließen mit allen, die ihm etwas bedeutet haben. – Zunehmend fallen ihm unschöne und traurige Begebenheiten ein, die „Umsiedlung“ eine ewige Wunde, die sein ganzes Leben mit bestimmte.
In vier Kapiteln holt Raile aus dem Dunkel der Erinnerung Gestalt um Gestalt hervor, erfüllt sie mit Leben und schenkt ihr sein Andenken. Alle im Dorf, Lebende und Tote, scheinen auf ihn gewartet zu haben, sprechen ihn in der vertrauten heimischen Mundart an, warten darauf, dass er sie dem Vergessen entreißt und ihre Geschichten erzählt und aufschreibt. Er lässt sie wieder lebendig werden; zum Greifen nahe begleiten sie ihn auf seinen Erinnerungsrundgängen. Nichts soll verloren sein, weder die Geschichte der Ungarndeutschen, ihr Brauchtum, das alltägliche Dorf- und Familienleben, noch die Folgen der beiden verheerenden Kriege, die in jeder Familie ihre Wunden schlugen, auch in der Familie des Erzählers Jani, dem alter ego des Autors. Die Schönheit der Landschaft, die Umgebung des Dorfes mitsamt seinen Veränderungen in diesen 60 Jahren entsteht plastisch vor den Augen des Lesers.
Es sind viele unterschiedliche Geschichten, doch eines ist allen gleich: Die Gestalten sind vom Krieg versehrt, auch wenn sie diesem – äußerlich heil – entronnen sind – sie alle sind Entwurzelte. Nicht nur diejenigen, die des Landes verwiesen wurden, sondern auch die Dagebliebenen: Sie mussten ihre Häuser den Telepes, den ungarischen Ansiedlern aus der Slowakei überlassen. Nichts mehr war wie vorher: man durfte nur noch zu Hause deutsch sprechen, die totale Magyarisierung hatte begonnen. Als „Nazis“ und Volksfeinde durften sie nicht studieren. Manche, vor allem die Älteren, konnten diesem Druck nicht standhalten, nahmen sich das Leben oder starben vorzeitig an ihren Schicksalsschlägen. Auch noch die nächste und übernächste Generation leidet an den Folgen und fühlt sich entwurzelt, der Heimat entrissen, fühlt sich weder im neuen Zuhause ganz daheim, noch in der alten Heimat. Die Leben waren zu weit auseinander gedriftet. Für lange Zeit verstummten viele von ihnen, nahmen das Erlebte mit in den Tod. –Raile schenkt ihnen die Erzählung ihres Lebens wieder: „Am härtesten trifft’s jene, die nach Umbrüchen schwerer als andre mit den veränderten Umständen zurechtkommen. Und für manche wird der Druck, den sie Tag für Tag empfinden, so groß, dass sie meinen, ihn nicht mehr lange aushalten zu können.“
Jani kommt nicht nur immer wieder auf den Tag seiner Ausweisung zurück, die ihn lebenslang verstört hat und den für ihn katastrophalen Beginn im neuen Leben. Er begegnet im Dorf seiner Kinderfreundin Edit, die er nie vergessen kann – und deren geheime Sehnsucht und Anspielung er nicht verstanden hatte, als er sie nach zwölf Jahren wieder sah. Diese Gelegenheit ist vertan, die Zeit kann nie mehr zurückgespult werden. Auch Edit gehört inzwischen ins Schattenreich der Erinnerung. Raile spricht von den jungen Männern, die bereits mit 17 zur SS gepresst wurden, gegen serbische Partisanen kämpfen mussten, heil und doch psychisch versehrt nach Hause kamen, dann in ukrainische Zwangsarbeitslager verschleppt wurden; er erzählt von Anhängern des „Volksbundes“, die den Krieg und seinen Ausgang dann doch ganz anders und ernüchtert erlebten, als sie es sich vorgestellt hatten, aber auch von einem, der sich nach Deutschland hatte absetzen können, dem es dort gut ergangen war und der seinen Lebensabend nun hier – preiswert, aber in gehobenem Lebensstil – verbringen will. Viele von ihnen nennt er mit Namen. Sie tauchen aus dem Dunkel seines Gedächtnisses auf, werden lebendig und vertiefen im Erzähler ein Verstehen ihrer und seiner Handlungen. Dabei streift er die Geschichte, den Volksaufstand 1956 in Ungarn, bei dem es auch Menschen aus seinem Dorf gelungen war, zu entfliehen, die aber nie wieder zurückkehrten, so groß ihr Heimweh auch war. Selbst seinem nie gekannten Großvater begegnet er, der äußerlich gesund den 1. Weltkrieg und seine vielen toten Kameraden überlebt hatte, doch zu Hause entwickelte sich in ihm das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. – Von seinem Vater erzählt Jani, der, als sich die Rote Armee näherte und die Sinnlosigkeit des Krieges nicht mehr zu übersehen war, Fahnenflucht beging und sich zu Hause verstecken musste. Janis Freund Tom, ebenfalls ein vertriebener Landsmann, mit dem er sich im neuen Zuhause befreundete, hatte kürzlich seinem Leben ein Ende gesetzt. – Auch er scheint nun hier neben ihm zu gehen und Zwiesprache zu halten. Tom kann ihm den geheimen Vorwurf an den Vater nehmen, kann ihm die Beweggründe seiner Freundin Edit erklären und ihn auf seine eigenen Brüche und ungeklärten Fragen hinweisen. Die Gedanken des Erzählers gehen hin und her, greifen eine angerissene Geschichte auf und erzählen sie zu Ende. Einige der Geschichten kennen wir schon aus Railes früheren Romanen. Hier fasst er sie noch einmal in einem großartigen Lebensrückblick zusammen und betrachtet sie wie vom Glockenturm aus, den er hatte als Kind nicht mehr besteigen können. Dabei setzt er sich auch mit den Reaktionen der Dorfgemeinschaft auseinander, als die Scharfmacher und Hetzer aus den Reihen der Volksbündler das Dorf spalten. So kommt er einige Male auf die Geschichte des jüdischen Ladenbesitzers Armin zu sprechen, ein freundlicher Mann, der ihm immer wieder eine Süßigkeit zusteckte: „Leute, die ich gut kenne und für redlich gehalten habe, plündern Armins Eckladen, kaum dass er mit Frau und Sohn von ungarischen Gendarmen zur langen Kolonne auf der Großgasse geführt worden ist….“ Jani philosophiert mit seinem Freund Tom über die Grausamkeit der Kriege und der daraus entstandenen Feindschaften, über die willkürlichen Grenzen, gezogen von drei, sich ihrer Macht eitel bewussten Führer. Und wie sie als Täter und Opfer zugleich mit in diesen Strudel hineingezogen worden waren: Ihm geht auf, dass die lebensbedrohlichen Kämpfe, die sie als kleine Jungen mit den Telepes, den Aussiedlern, führten, genau denen ähneln, die er mit den Jungen in der „sächsischen Stadt“ auszufechten hatte. Beide Male war die einheimische Bevölkerung zutiefst misstrauisch und grob gegen die Zugereisten – und diese zutiefst verunsichert über den Verlust ihrer Heimat, und damit voll Zorn und Wut auf die Alteingesessenen. „..waren wir, obwohl uns die Umstände zu Tätern werden ließen, nicht vorrangig allesamt Opfer, da wir in einer Zeit groß wurden, die durch Gewalt, im Krieg begonnen und danach blindlings fortgesetzt, geprägt wurde?“
Ein letzter Abschied sollte der Besuch im Dorf werden – doch als Jani seine Kusine Maria wieder aufspürt, die 1956 nach Italien geflohen, einen Schlussstrich unter ihr altes Leben hatte ziehen wollen und sich nie mehr gemeldet hatte, äußert sie den Wunsch, ihr heimatliches Dorf mit ihm zusammen doch noch einmal zu besuchen, worauf Jani erfreut eingeht.
Ich meine, unter den vielen Büchern der Erinnerung, ist dieses ein ganz wichtiges – besonders für die jüngere Generation, die sich zwar zunehmend für die Schicksale ihrer Großeltern interessiert, der aber oft Grundlagen und Zusammenhänge der Geschichte fehlen.

© Gudrun Brzoska

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