Rezension: Fahidi, Éva – „Die Seele der Dinge“

Autobiografie
Aus dem Ungarischen von Doris Fischer
Verlag Lukas, 2011
ISBN: 978-3-86732-098-6
Originaltitel: Anima Rerum. A dolgok lelke, 2005
Bezug: Buchhandel Preis: 16,90 Euro

„Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“. Unter diesem Motto luden der Bürgermeister und die Gemeinde Stadtallendorf (Hessen) im Jahr 1990 tausend ehemalige ungarische Zwangsarbeiterinnen ein. Sie hatten im Lager Münchmühle, das zum Konzentrationslager Buchenwald gehörte, in einer Munitionsfabrik Sklavenarbeit verrichten müssen. Damals hatte Éva Fahidi es noch nicht fertig gebracht, ihre Erinnerungen aufzuschreiben; sie waren noch zu „nah“. Auschwitz-Birkenau und Allendorf stecken ihr noch heute in den Knochen. Vergessen kann sie weder Vernichtungslager noch Zwangsarbeit.
Am 1. Juli 2003 reiste die damals 78jährige nach langem innerem Widerstreben, „freiwillig“ nach Auschwitz-Birkenau. Doch ihre Angst, alles wieder durchleben zu müssen, war umsonst gewesen. Der Ort ist inzwischen Touristenattraktion, und Éva Fahidi fragt sich, wie man heutzutage einem Menschen das Unfassbare überhaupt begreiflich machen kann. Sie fragt sich, wieso bis heute keine ungarische Regierung es über sich bringen konnte, eine Gedenktafel anbringen zu lassen, für die 340 000 jüdischen Ungarinnen und Ungarn, die hier in nur acht Wochen verbrannt worden waren. Jahrzehntelang hatte sie versucht die Bilder vom Konzentrationslager zu verbannen, doch das war und ist unmöglich. – Wenn auch ihre Generation, die über 70 – 80jährigen tot sein werden, wer wird sich noch erinnern wie sie auf der Rampe standen, nach links oder rechts gewunken wurden, wie sie auf engstem Raum zusammengepfercht wurden; wer wird sich der Appelle erinnern, die sie zwangen, stundenlang mit empor gestreckten Armen auf den Knien auszuharren; wer wird sich erinnern an die Peitschenhiebe, den Hunger, den Durst, den Rauch, der Tag und Nacht aus den Krematorien stieg, wer an die Unsicherheit, wann man selbst dran sein würde? Wer wird sich erinnern an die Blockältesten, von deren Launen die Zwangsarbeiterinnen auf Gedeih und Verderb abhingen?
Éva Fahidi gibt endlich dem Drängen des Magistrats von Stadtallendorf und ihrem ungarischen Verleger nach. 2004 erscheint das Büchlein „Meine Münchmühle“; 2005 die viel ausführlichere ungarische Version; 2011 übernimmt der Lukas Verlag diese wieder ins Deutsche übersetzte Ausgabe.
Hier erzählt sie von ihren beiden Leben; dem vor Auschwitz – und dem danach. Die Erfahrungen und Erniedrigungen von Auschwitz und Buchwald überschatten ihr ganzes weiteres Leben: „Wer einmal ein Häftling war, wird nie wieder der Mensch, der er zuvor gewesen ist. Etwas in ihm ist für alle Zeit zerbrochen“.

Fahidi lässt ihre schöne und behütete Kinder- und Jungmädchenzeit vor uns auferstehen, ein lebendiger, farbiger Einblick in ein groß -und gutbürgerliches Leben des 19. und 20. Jahrhunderts – vor 1944. Liebevoll beschreibt sie ihre Familie in Debrecen, humorvoll schildert sie ihre Großeltern und Eltern, ihre Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Und lakonisch-schmerzvoll konstatiert sie immer wieder, dass dieser und jener Verwandte Auschwitz 1944 nicht überlebt habe – oder schon vorher ermordet worden war. Nur wenige aus der großen Familie haben überlebt, einige wenige kann sie später wieder treffen.
1936 war ihr Vater zum katholischen Glauben übergetreten, sie selbst wurde in einer Klosterschule erzogen. Diese Jahre gehörten zu ihren schönsten; es gab keine Judenhetze, die Kinder wurden alle gleich behandelt. Das begabte Kind hätte eigentlich alles werden können: Pianistin, Künstlerin, Sportlerin, Diplomatin mit vielen Sprachkenntnissen.
Die Erinnerung, wie diese goldenen Jahre so urplötzlich, mit einem Schlag ausgelöscht wurden, schiebt sich dazwischen. Ja, Auschwitz und das Lager Allendorf sind allgegenwärtig.
Immer wieder werden kleine Bemerkungen über die Geschichte und damalige Lage Ungarns eingestreut, damit der Leser Vorgänge und Befindlichkeiten in Ungarn besser verstehen kann, z.B. den „Ausgleich“ 1867, das „Abkommen von Trianon“, die Teilnahme am 2. Weltkrieg.
Rückblickend wundert sie sich, wie blind und taub die ungarischen Juden Miklós Horthys Schutz vertraut hatten, obwohl in den umliegenden Ländern, Polen, Tschechoslowakei, Rumänien ihre Welt bereits in Trümmer ging und die Juden deportiert und vergast wurden.
Erst im letzten Drittel des Buches berichtet Éva Fahidi zusammenhängend, diesmal mit Rückblicken in ihre glückliche Zeit, von Deportation und Zwangsarbeit: Wie sie abtransportiert wurden, im Viehwagen fast erdrückt und verdurstet wären – manche starben während des Transports – wie sie, von ihr selbst gar nicht wahrgenommen, an der Rampe getrennt wurden, Mutter, Schwester und Kusine mit dem Säugling wurden sofort ins Gas geschickt, Éva vom KZ-Arzt Mengele als Arbeitskraft abgesondert.
Sie fragt sich auch, warum die ungarischen Gendarmen während der Zeit der Deportationen ohne Notwendigkeit so überaus grausam waren. Fast der gesamte administrative Apparat, hatte innerhalb von acht Wochen die Deportationen von ungefähr 340 Tausend Ungarn nach Auschwitz-Birkenau organisiert und durchgeführt.
Dankbar erinnert sie sich der Solidarität und Menschlichkeit in „ihre “Fünfer-Reihe“: Alle aßen aus dem selben Geschirr, verbrachten den ganzen Tag zusammen in der sengenden Sonne, waren in jeder Sekunde aufeinander angewiesen. „Ich und Wir waren dasselbe. Ohne diesen Zusammenhalt wäre keine von uns je wieder zurückgekehrt“.
Zu ihren Überlebensstrategien gehörte, dass sie sich gegenseitig erzählten, was sie studierten wollten, dass sie sich Mut machten. Sie improvisierten Theatervorstellungen um sich am Leben zu halten; denn für die Volkserheiterung gab es Marmelade und Margarine.
„Je größer der Druck, desto stärker der innere Widerstand. Wir blieben trotz allem Menschen, trugen das Haupt aufrecht, hielten das Essbesteck wie zu Hause, wuschen uns täglich und putzten uns die Zähne. Wir sprachen korrekt und zivilisiert miteinander Und wir vertrauten und achteten einander und glaubten an unsere Zukunft. Deshalb haben wir das Lager überlebt, deshalb sind wir zurückgekommen“.
Am 31. März 1945 werden sie von Amerikanern befreit. – Am 4. November1945 trifft sie wieder in Debrecen ein – allein. In ihrem Haus wohnen Fremde; man schickt sie ungerührt weg. Später wird sie von den Kommunisten als „deklassiertes Element“ auf die Straße gesetzt.
Nach der Wende erhält sie ihr Vermögen, das sich der Staat angeeignet hatte, nicht zurück: Sie kann keinen amtlichen Totenschein ihres Großvaters vorweisen, der ins Ghetto Mezőcsát deportiert worden war und nicht mehr zurückkam.

Obwohl es in Ungarn, anders als in Deutschland keine Geschichtslehrbücher gibt, in denen die Tatsachen der jüngsten Vergangenheit entsprechend gewürdigt werden, ist Éva Fahidi für ihre Enkel optimistisch, hofft und vertraut darauf, dass es keine Rassendiskriminierung mehr geben wird.
In Buchenwald trifft sie sich alle zwei Jahre mit den noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiterinnen.
© Gudrun Brzoska

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