Rezension: Salziger Kaffee „Unerzählte Geschichten jüdischer Frauen“

Zusammengestellt, bearbeitet und mit einem Vorwort versehen von Katalin Pécsi
Verlag Novella Kiadó Kft., ISBN: 978-3-926082-39-8
Bezug: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin oder Novella Kiadó Kft., Budapest; Preis: Euro 9.00

„Salziger Kaffee“ – rund 30 Geschichten hat Katalin Pécsi, die leitende Mitarbeiterin des Holocaust Gedenkzentrums Budapest, in Zusammenarbeit mit der von ihr gegründeten Frauengruppe EszterHáz in dieser Anthologie zusammengestellt und mit einem Vorwort versehen.
Subjektive Geschichten von Frauen, die ganz persönliche Erlebnisse wiedergeben und unterschiedliche Aspekte des jüdischen Lebens im 20. Jahrhundert vermitteln – Geschichten, die in dieser Form nie vorher an die Öffentlichkeit gelangten, war doch die Frau grundsätzlich in der ungarisch-jüdischen Literatur wenig präsent.
Die meisten dieser äußerst ergreifenden Geschichten beziehen sich unmittelbar auf den Holocaust, wobei sich der 19. Mai 1944 (der Einmarsch der deutschen Truppen in Ungarn) sowie der 15. Oktober 1944 (der Tag der Proklamation Horthys) oft als zentrale Bezugsdaten für die geschilderten Erlebnisse erweisen. Erlebnisse, von denen eine der Verfasserinnen sagt, es liesse sich, “bis heute nicht begreifen, wie wir diese Gräuel überlebten”.
Unter den Verfasserinnen der Geschichten gibt es aber auch jüngere Frauen, die sich als zweite Holocaust Generation begreifen. Ihre Geschichten kreisen um die Auswirkungen der Traumata ihrer Mütter und Großmütter auf ihr eigenes Leben, welches häufig durch das verbreitete Verschweigen der Vergangenheit ebenfalls traumatisch verläuft. Insofern stehen auch sie vor dem inneren Zwang, sich in irgendeiner Form mit dem Holocaust auseianderzusetzen.
Von einer dieser Verfasserinnen erfährt der Leser, dass sie das dringende und als pervers bezeichnete Verlangen spürt, immer wieder Memoiren zu lesen, um zu erleben, was sie selbst nicht erlebte. Ein ähnliches Gefühl stellt sich unweigerlich beim Lesen aller der in diesem Band versammelten Geschichten ein. Ein Gefühl, dass die inhaltliche Wiedergabe nahezu unmöglich macht; die Sphäre der Erfahrungen ist überaus intim und hinterlässt einen Eindruck von Unerzählbarkeit.
Die Anthologie ist vor dem Hintergrund der öffentlichen Diskussionen zum kollektiven Gedächtnis und der Aktualität der Holocaust-Erinnerungsliteratur ein wichtiges Buch, lenkt es doch den Blick auf die sonst wenig beachtete weibliche Erfahrungsweise. Und diese spiegelt sich – wie Katalin Pécsi in einem Interview mitteilt – in der Tatsache, dass die Frauen einerseits anderes Leid als die männlichen Opfer erfuhren, andererseits auch Überlebensstrategien erkennen lassen, die von gegenseitiger Unterstützung geprägt sind.
Unabhängig von der weiblichen Perspektive lenken die Geschichten das Augenmerk auf die spezifisch ungarisch-jüdische Erfahrung nach dem 2. Weltkrieg: So sehr sich die ungarischen Juden auch als Opfer der ungarischen Gesellschaft betrachteten, so waren sie doch bestrebt, sich mit dieser Gesellschaft zu identifizieren – ein Zwiespalt, der häufig zu Identitätsstörungen führte.
Die Anthologie schließt mit einem Nachwort der Literaturwissenschaftlerin Katalin G. Kállay sowie Gratulationen von Judith Magyar Isaacson, Judy Weiszenberg Cohen und Katalin Katz.

Lesen Sie hier ein Interview mit Katalin Pécsi (Budapester Zeitung, 04. Mai 2010).

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