Rezension: Kerékgyártó, István – „rückwärts“

Aus dem Ungarischen von Éva Zádor
Verlag: Nischen, Wien, 2014
ISBN: 978-3-9503345-8-6
Originaltitel: rükverc, 2012
Bezug: Buchhandel; Preis:18,90 Euro

In seinem zweiten Roman in deutscher Übersetzung, stellt uns István Kerékgyártó den neuen, ungebremsten Kapitalismus nach der Wende in Ungarn und seine Opfer vor. Früher habe er nur über Lebensfreude und Sinnenlust geschrieben, sagt der Autor bei einer Lesung in Stuttgart, 2014. Aufgefordert, eine harte Short Story zu schreiben, habe er sich einen einfachen Normalbürger, einen Kellner vorgenommen, den er in verschiedene Lebensphasen hineinversetzt habe. Diese einzelnen, in sich abgeschlossenen Novellen, hat er dann in einem „Novellenkranz“ zu einem Roman gefügt. Ein übliches Stilmittel in der ungarischen Literatur. Die Bühnenfassung dazu ist in seinem Heimatland ein großer Erfolg und soll auch in Deutschland auf die Bühne kommen.
Der Autor hatte früher viele Interviews mit Obdachlosen geführt, ihnen und ihrer Sprache zugehört – und so war es naheliegend, dass die Hauptperson dieses Novellenromans, Zsolt Vidra, eine gescheiterte Existenz, ein Obdachloser wurde. Ein Landstreicher, der auch einmal in einem (fast) ganz normalen Leben anfing, nicht auf der Straße geboren wurde, sondern in einer Familie, die allerdings einen Schönheitsfehler hat: Der Vater ist ein Einbrecher und Dieb.
Gefunden wird er als Penner im Winter auf einer Parkbank, nackt, offenbar erfroren. Die Polizei bemüht sich halbherzig um Aufklärung dieses Falls – das ist ihre Pflicht. Der Tote wird obduziert; er weist verschiedene, aber alte Verletzungen auf, stinkt nach Alkohol und war bei seinem Tod offenbar sternhagelvoll: Einer der Polizisten: „Schöner Tod. Da liegt die arme Sau auf der Bank, es ist ihm weder kalt, noch tut ihm was weh, nur so ein leichtes Schweben, und dann schläft er mit einem dümmlichen Grinsen ein.“. Seine Identität wird ermittelt, er war als „der Lahme“ bekannt, wie seine Freundin und Schicksalsgenossin erzählt. Viel weiß sie nicht über ihn – man erzählt sich gegenseitig nichts von seinem trostlosen Leben -. Sie weiß nur, dass er seine Zehen abgefroren hatte und deshalb hinkte. Ein stiller Typ sei er gewesen, eher ängstlich. Sie war mit ihm auf „Flaschenjagd“ gewesen, d.h., aus dem Müll fischten sie Flaschen, um dafür Pfand zu erlösen. Manchmal sei auch noch ein gutes Tröpfchen drin gewesen. Die Frau erzählt dem Kommissar, wie es so zugeht in den Obdachlosen-Unterkünften, wie man auch da beklaut und schlägt. Sie waren zusammen, bis er zur sog. „Hundebande“ kam. Für die musste er „den Sklaven machen“; sie nahmen ihm das ganze Geld weg, das er zusammen gebettelt hatte. Von dort wollte er weg. Mehr weiß sie nicht. Als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, am 25. Dezember, hat er gebetet, dass er möglichst bald stirbt, weil er es so nicht mehr aushält. Danach hat sie ihn nicht mehr getroffen.
Den Polizisten ist klar, dass sie aus der Bande die Wahrheit nicht herausholen können. Sie lassen die Sache fallen: „Da Vidra von ihnen weggelaufen ist, haben sie ihn zurückgeholt. Am nächsten Abend haben sie ihn volllaufen lassen und sind dann vom Lager aus losgegangen. Bis zum Mechwart-Park sind sie gelangt, wo er schon sturzbesoffen war. Sie haben ihn auf die Bank gelegt, ausgezogen, seine Sachen unter sich aufgeteilt, was sie nicht brauchen konnten, haben sie verbrannt. … er ist erfroren. Der Fall ist abgeschlossen. – Sie haben ihn betrunken gemacht. Er ist glücklich gestorben. Hat ja eh um einen schönen Tod gebetet. Den hat er bekommen.“
Wie konnte es soweit kommen? Der Frage geht der Autor nach, indem er uns Vidra in einzelnen Episoden seines Lebens zeigt, in aufeinanderfolgenden Kapiteln, jeweils eine Stufe besser – bis zurück zu seiner Geburt. Gleichzeitig stellt er den Ist-Zustand einer Gesellschaft fest, den totalen Gegensatz zwischen denen, die es – wenn auch auf fragwürdige oder gar unmoralische Weise – geschafft haben, sich auf die Sonnenseite des Lebens zu bringen und jenen, die sich haben abservieren lassen, zu naiv oder zu wenig brutal waren. Auch die Oberschicht vor der Wende ist betroffen, wenn auch nicht im gleichen Maße. Auch da wurden Chefs und Oberingenieure aus ihren Posten getrickst, wenn sie nicht genügend gerissen und skrupellos war – allerdings mit Abfindung und gesichertem Unterhalt. Gleichzeitig zeigt er uns ein Gesellschaftsbild in Ungarn auf, das völlig frei ist von Mitleid und Solidarität mit den Armen. Die Armut soll nicht sichtbar sein – ein Obdachloser ist selbst schuld an seiner Misere.
Kurz vor seiner totalen Demütigung hilft Vidra dem Gärtner eines neureichen Emporkömmlings, welcher ihn mehr oder weniger zwingt, verdorbenes Hundefutter zu fressen, was er seinen Lieblingen nicht zumuten will. Das viele Geld hat den Mann nicht besser gemacht, ganz im Gegenteil, er ist vulgär, kalt und roh; er hat die Macht, kann es sich leisten, den ums tägliche Leben Ringenden zu demütigen; eine der brutalsten Novellen des Romans.
Vidras Leben, das sich immer mehr erschließt, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, trotz, Ironie des Schicksals, der Überzeugung der Hebamme, sein Leben werde reich, glücklich und gesund sein – und des väterlichen Zaubers für ein gutes Leben. Die Mutter, Kellnerin an einem Fabriktresen, fällt auf den kriminellen Schlosser Tibor Vidra rein, der, kaum verheiratet, von der Polizei abgeholt wird. 1953 – aber kein „Politischer“, sondern ein Einbrecher, der einen Panzerschrank geknackt hatte. Ein Leben lang wird dieser Vidra vom großen Coup träumen, der ihm nie gelingen – sondern ihm mehr als 22 Jahre Gefängnis einbringen wird, bis ins Altenheim, wo er noch einmal versuchen wird, das große Ding zu drehen: Sein Ende. Das Leben seiner Familie hat er ruiniert. Die Mutter schlägt sich mit ihrem Sohn durch, der Makel, eine Diebesfamilie zu sein, verfolgt sie, was auch der Junge zu spüren bekommt. Er ist intelligent, schwänzt aber häufig die Schule, seine pubertierende Fantasie kann er nur mit zweideutigen Heftchen befriedigen. Gleichzeitig wird ihm aber schlecht, als er ungewollt Zeuge wird, wie seine Mutter es mit einem Kollegen treibt, während der Vater wieder mal im Gefängnis sitzt.
Zsolt wird Kellner, gleich darauf zum Militär einberufen. Auch dort erlebt er Verrohung und Willkür seitens der Vorgesetzten; das Wichtigste ist die ordnungsgemäße korrekte Anrede durch den Untergebenen.
Später wird er die Erfahrung machen, dass es für einen wie ihn, ein Nichts, auch in einem fachmännisch ausgeübten Beruf, keine Möglichkeit gibt, Demütigungen und abschätziger Behandlung auszuweichen.
Er heiratet, hat eine Tochter – und ist immer wieder arbeitslos. Als ihm am 15. Hochzeitstag, den er im Übrigen vergessen hat, klar wird, wie unvorteilhaft sich seine Frau verändert hat, ist er überzeugt, damit einen Freibrief zu haben, sie zu betrügen. Als er allerdings seinerseits seine Frau beim Ehebruch ertappt, weist er sie aus der Wohnung. Er fühlt sich leicht und glücklich, aber nicht lange; denn seine Frau bleibt dann doch in der Wohnung, gemeinsam mit der Tochter. Er muss ausziehen, fängt an zu trinken und landet bald auf der Straße.
Früher, als es ihm noch besser ging, konnte die Familie sogar einen Insel-Rügen-Urlaub machen. Organisiert hatte das der Betrieb seiner Frau. Beinahe wären er und seine Tochter dabei ertrunken, wenn er sie nicht auf Händen übers Wasser gehalten hätte, bis Rettung kam.
Vidra hatte ein Fachgymnasium für Gaststättengewerbe besucht. Sein bester Freund ist Tamás Ádler, ein Jude. Die Eltern hatten ein Lederwarengeschäft und er sogar ein eigenes Zimmer, in dem sie rauchen und trinken konnten, ohne dass die Eltern etwas dazu sagten. Tamás flieht in den 70er Jahren gleich nach dem Abitur. 10 Jahre später meldet er sich wieder aus Singapur, wo er ein gutgehendes Café hat mit seiner chinesischen Frau. Sie wollen die Heimat mit ihrem zweijährigen Sohn besuchen und Tamás lädt Zsolt ein, mit ihnen und seiner verwitweten Mutter eine Rundreise durch Österreich zu machen. (Ab Anfang der 80er Jahre herrschte in Ungarn bereits weitgehend Reisefreiheit). Schon auf der Rückfahrt, kommen sie am Wegweiser „Mauthausen“ vorbei. Tamás will seiner Frau „die Sache mit den Juden“ erklären und fährt hin. Seine Mutter war in Dachau, ein Onkel kam in Mauthausen um.
Hier möchte ich einfach wörtlich eine der eindrucksvollsten Beschreibungen eines Konzentrationslagers widergeben: Tamás und seine Frau lassen das Kind, der „kleine Rambo“ genannt, bei Zsolt zurück um sich die Gebäude anzusehen. Das Kind fängt jedoch bald an zu weinen und zu schreien, Zsolt läuft mit ihm ins Gebäude um die Eltern zu suchen: „…durch Eisentüren gelangte er in alle möglichen halbdunklen, kühlen Kammern und das Kind, das bislang nur seine Eltern vermisst hatte, bekam nun zusätzlich Angst. Aber auch Vidra fürchtete sich, ihm lief es bei diesem beklemmenden Ort ebenfalls kalt den Rücken hinunter und offensichtlich spürte das Kind die Angst des Mannes in dem dunklen Labyrinth. Der Junge brüllte in einem fort. Doch da, unter der Erde, verstärkte sich in den widerhallenden Räumen die Kinderstimme um ein Vielfaches. Sie wurde voller, dröhnte. Jeden Winkel der Folterkammern, Gefängniszellen erfüllte dieses wahnsinnige Weinen. In einem kleinen Raum kamen sie an einen aus Stein gemeißelten Tisch, auf diesem waren die Leichen zerlegt worden, denn anfangs hatte man sie nur in einem kleineren Ofen verbrannt. …Das Kind auf seinem Arm brüllte wie am Spieß. Fast rennend begaben sie sich weiter. Sie gelangten in den Duschraum, wo das Gas aus den Rohren gekommen war, das Kind brüllte mit Todesschreien. Dann folgten die beiden Krematorien, in diese konnte man bereits ganze Körper, unzerlegt, hineinschieben, da war das Eisengestell, auf das man die Leichen gepackt hatte. Vidras Hände zitterten, er ließ den Jungen beinahe fallen. Er rannte weiter, das Kind bekam vor lauter Weinen schon kaum mehr Luft. Er erreichte die Messlatte, mit der man den Gefangenen vorgespielt hatte, sie würden gemessen, dabei schoss man ihnen ins Genick.“ …
Und noch davor arbeitet er in einem Fleischkombinat, fährt mit einem Chauffeur über Land um die Dörfer zu beliefern. Sie können sich, wie allgemein üblich, immer etwas abzweigen „mopsen“ von den Waren, die sie mit anderen Fahrern von Molkerei- und Getreideprodukten tauschen. Auf einer dieser Fahrten verliebt er sich in ein Zigeunermädchen. Sie wollen heiraten. Das war wohl seine glücklichste Zeit gewesen, bis er von ihren Brüdern mit dem Messer bedroht, ins Bein gestochen und vertrieben wird. Sie hat schon einen Verlobten: Einen alten Zigeuner hat man ihr ausgesucht.

So legt sich ein Mosaikstein zum anderen, füllt das Lebensbild Zsolt Vidras, bis zu seiner Geburt. Die Mutter hatte ihn nicht haben wollen, eine „natürliche“ Abtreibung versucht, da ihr frisch getrauter Ehemann zum ersten Mal im Gefängnis saß. Doch der Embryo war hartnäckig und ließ sich nicht vertreiben. Als das Kind dann da war, ein Weihnachtskind, war auch sie überzeugt, dass er ein glückliches und gutes Leben haben würde.
In starken Bildern und kräftiger, bisweilen vulgärer Umgangssprache zeigt Kerékgyártó das ganze Elend des nachsozialistischen und neokapitalistischen Ungarn, exemplarisch an der Person des Zsolt Vidra. Es gibt auch komische Einsprengsel, über die man schon mal den Mund verziehen will zum Lachen, doch das bleibt einem im Halse stecken bei diesem bitterbösen Roman.
Man schließt das Buch und ist nicht erlöst – sondern bleibt verstört und nachdenklich zurück.

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