Rezension: Gleichmann, Gabi – „Das Elixier der Unsterblichkeit“

Roman
Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann & Wolfgang Butt
Verlag: Carl Hanser München, 2013; 672 Seiten
ISBN 978-3-446-24124-4
Originaltitel: Udødelighetens elixir, 2012
Bezug: Buchhandel, Preis: 26,00 Euro

2012 erhielt der norwegische Autor, jüdisch-ungarischer Abstammung, für dieses Werk den norwegischen Debütpreis. Inzwischen ist das Buch in 12 Sprachen übersetzt, auch ins Ungarische. Es erzählt über 36 Generationen 1000 Jahre europäischer Geschichte, in welche die Familie Spinoza involviert ist. Die Familiensaga beginnt mit Baruch de Espinosa, der Anfang des 12. Jahrhunderts im Zeichen eines Kometen geboren wurde und endet mit Ari Spinoza, der, ohne Nachkommen, seine letzten Lebenstage damit verbringt, die Geschichte der Spinozas vor dem Vergessen zu bewahren und alles aufzuschreiben. Seine Kenntnisse hat er aus mehreren Quellen: Aus Dokumenten und Aufzeichnungen seiner Ahnen, beginnend mit Baruch de Espinosa, mit der Überarbeitung und Weiterführung dieser Schriften, welche der Philosoph Benjamin Spinoza im 17. Jahrhundert zu einem Werk zusammentrug, und aus den farbigen, lebensvollen Erzählungen seines Großonkels Fernando, der ihm und seinem Zwillingsbruder Sasha mit Begeisterung einzelne Episoden und Personen der Familie schilderte: „Er war ein fabelhafter Erzähler. Mit seinen die Fantasie beflügelnden Anekdoten, … nährte er unsere Faszination und brachte uns ständig zum Lachen“. Über ihn selbst erfahren wir, dass er als Jude zur Zwangsarbeit eingezogen wurde, den Krieg überlebte, nach der „Befreiung“ in Budapest von sowjetischen Soldaten verhaftet und nach Sibirien deportiert wurde. Als er zurückkam, hatte er keine Familie mehr, seine Frau und die beiden Töchter waren in Auschwitz ermordet worden. Er lehrte die beiden Buben, dass es ein paralleles Universum und auch in den schlimmsten Augenblicken noch Hoffnung gäbe, dass das Leben immer lebenswert sei. Gleichmann hat sich und seinen Söhnen, wie er in einem Interview erzählt, mit dieser Familie eine Genealogie geschaffen, die anders als ein üblicher Stammbaum mit realen Daten, das Leben der Spinozas, stellvertretend für die europäischen Juden und ihre Verknüpfung mit der europäischen Historie schildert: Seit dem frühen 12. Jahrhundert waren sie immer dabei, wenn etwas Aufregendes passierte, wenn am Rädchen der Geschichte gedreht wurde, wenn Erfindungen gemacht oder weit reichende philosophische Gedanken verbreitet wurden. Es ist nicht immer leicht der weit verzweigten Geschichte zu folgen, die vielen Personen im Auge zu behalten; denn Ari erzählt nicht nur chronologisch, sondern gleichzeitig vom Anfang und vom Ende, von seinem eigenen Ende her. Manche Geschichten führen in eine Sackgasse, andere erwecken das Leben der nächsten Generation. Allerdings fasst der Erzähler immer wieder die ganze Saga kurz zusammen, so dass man einen Überblick behält. Mit der Familie zusammen wandern wir Leser mit den Leibärzten, den Philosophen, den Naturwissenschaftlern, Kaufleuten, Bankiers, den Revolutionären und Kommunisten, den Künstlern, den Verrätern, Überläufern und Scharlatanen, den Betrügern und Gelehrten durch die Zeit. Wir lernen sie kennen in Armut und Reichtum, in Demut und Überheblichkeit, in Ansehn und Verfolgung. Das ganz „normale“ Leben der sephardischen Juden also.
Dem Urvater der Spinozas, dem jungen Baruch de Espinosa, verkündet der Prophet Moses, der alle 1000 Jahre auf die Erde kommt, um den Willen des Herrn zu verkünden: „Morgen sollst du das Haus deines Vaters verlassen und nach Lissabon wandern. … Deine Reise wird lang sein und viele Prüfungen erwarten dich …. Eines Tages wirst du ein großes Geheimnis finden, nach dem die Menschen seit Anbeginn der Zeiten gesucht haben. Dieses Geheimnis wird von deinen Kindern und Kindeskindern tausend Jahre lang gehütet werden. Solange deine Nachkommen ihre Verpflichtung einhalten, …wird der Herr über sie wachen. Wenn aber jemand den Willen des Herrn verrät, wird dein Geschlecht ausgelöscht werden von der Erde. …. Nur der älteste Sohn in jeder Generation darf in das Geheimnis eingeweiht werden…. Du wirst das Geheimnis finden … wenn die Zeit reif ist“. Das ist zugleich Auftrag, Sendung und Weissagung zur jahrhundertelangen Wanderung der Juden. Baruch wird mit einer Riesennase geboren (eine Parodie auf Merkmale, die man den Juden nachsagt). Diese große Nase wird in jeder Generation einem Nachkommen weiter vererbt. Sie verheißt ein Leben als Glückspilz, aber einen tragischen Tod. Der junge Mann wandert nach Lissabon, züchtet das Heilkraut Raimondo, welches ewiges Leben verleiht, doch nie eingenommen werden soll. Er wird der Leibarzt des Königs Alfonso Henriques und gründet damit eine Dynastie von königlichen Leibärzten, bis Chaim im 13. Jahrhundert den ersten Verrat begeht: In der Gier, eine sichere Stellung als Leibarzt auch beim Sohn des Königs zu erhalten, vergiftet er dessen Vater. Damit beginnen auch Flucht und unstete Wanderung der Familie. Chaims Sohn Moishe ist wieder ein rechtschaffener Mann, ein Gelehrter, ein Kabbalist. Auch er wird mit einer großen Nase geboren und stirbt an der Pest. Sein Sohn Salman befindet sich wieder auf der Flucht vor Denunziation und Verfolgung. Einzig die Schriften seines Vaters, das Wissen der Familie, hat er im Gepäck. Er vertieft sich in die Weissagung und – da der Tod ihm alle seine Lieben genommen hat, sagt er diesem den Kampf an, nimmt einige Tropfen des Elixiers Raimondo und wandert unsterblich über 300 Jahre lang an der Seite seiner Nachkommen durch Europa. In der Legende ist er der „Wandernde Jude“, das Gegenteil des „Ewigen Juden“, welcher nach christlicher Deutung verflucht ist, ewig zu wandern, da er Jesus auf seinem Kreuzweg sogar die Rast in seinem Schatten verwehrt hat. Der „Wandernde Jude“ Salman kann zwar keine Wunder vollbringen, doch so lange er auf Erden wandelt, hilft, heilt und steht er – unerkannt – den Seinen in allen Nöten bei. Die Judenpogrome werden im Laufe der Jahrhunderte häufiger, Mitglieder der Familie konvertieren, leben ihr jüdisches Leben im Geheimen weiter, oder treiben es mit der Judenverfolgung ärger als die Inquisition, doch immer ist es ein herausragendes Mitglied der Familie, welches überleben kann.
Im 17. Jahrhundert sind die Spinozas, befreundet mit Rembrandt, in Amsterdam angekommen. Mit Bento und Benjamin Spinoza geraten sie mit der jüdischen traditionellen Glaubenslehre in Konflikt, werden ausgestoßen und verflucht. Wie der echte Benjamin (Baruch) Spinoza, schleifen sie optische Gläser und Linsen, um sich ihren Unterhalt zu verdienen. Historie mit Fiktion gemischt, lässt aus den Geschwistern Bento und Benjamin Baruch Spinoza werden. Er ist es, der aus dem ganzen Bündel von Schriften, Weissagungen, Dokumenten und Rezepten, welche ihm Salman am Ende seines irdischen Lebens übergibt, das Buch „Das Elixier der Unsterblichkeit“ verfasst. Salman erzählt ihm, dass er im Laufe von über 300 Jahren alles Leid, alle Krankheiten und Ungerechtigkeiten des Lebens, Naturkatastrophen, Hungersnöte, Pest und Cholera erfahren habe. Er verkörpert die leidgeprüfte Menschheit und vor allem die leidgeprüfte Judenheit. Er erzählt, dass er immer unterwegs gewesen sei, als Handwerker, als Rabbiner, Lehrer, Leibarzt, Buchdrucker, Künstler und königlicher Ratgeber. Er habe die Anden bestiegen, die Sahara durchquert, im Ganges gebadet. Er bietet dem Philosophen weder ewiges Leben noch Erlösung an, sondern Wissen, verbunden mit Verantwortung; angefangen vom ersten Leibarzt der Familie, über Verfolgungen und Mordanschläge, denen sie ausgesetzt waren, bis zum Versuch in der Neuen Welt Fuß zu fassen und zur Zerstreuung der Familie über ganz Europa.
Im 17. Jahrhundert taucht Hector auf, ein französischer Aufklärer, der an der Sorbonne Rechtswissenschaften studiert hatte. Mit Voltaire ist er befreundet. Dieser übernimmt nach Hectors Tod die Vormundschaft für seine Kinder. Ein Sohn, Nicolas ist ungeraten, die Tochter Shoshana eine große Physikerin, die sich, von Voltaire in ihrer Liebe zurückgewiesen, das Leben nimmt. Übrig bleibt Nicolas, auch er mit einer großen Nase ausgezeichnet. Er befreundet sich mit Robespierre und endet unter der Guillotine, weil er die Grausamkeit seines Freundes öffentlich rügt.
Über Nicolas’ Witwe Chiara kommt die Familie nach Frankfurt, ins Haus des Bankiers Amschel Rothschild. Nach dessen Tod ist die Frau mit ihren Söhnen wieder heimatlos, und als 1819 der Frankfurter Pöbel das Judenghetto angreift, kommen nur Chiaras mit ihrem Enkel Jakob davon. Jakob hat nicht nur eine riesige Nase, er ist auch überaus intelligent, lernt mit Leichtigkeit Sprachen und kennt sich in der Finanzwelt aus. Mit seinem Sohn Nicolas und dessen Sohn Bernhard sind wir schon im 19. Jahrhundert und im Habsburger Reich angekommen. Bernhards Kinder sind Halbjuden, der eine sogar befreundet mit Ari (Hitler), der gern das Familienkleinod „Das Elixier der Unsterblichkeit“ in seinen Besitz bringen und es zu viel Geld machen möchte. Nathan, der zweite Sohn, kann das Buch retten. In dieser Generation machen sich auch die Seitenlinien der Familie Spinoza bemerkbar, z.B. der Cousin Mathäus Frombichler, der spätere halbjüdische Koch Hitlers, der es versteht, mit allerlei Tricks einige hundert Juden aus Hitlers Fängen und vor der Vernichtung zu retten. Unter ihnen auch Ferenc, Franz Scharf, genannt Fernando, den Großonkel des Erzählers. Dieser Frombichler, eine phantastische Figur, die real nie existiert hat, taucht von Anfang an immer wieder auf – und weist auf das Ende hin, das Ende der Juden im Holocaust und damit das Ende der Spinozas. Nathan, der nach dem Krieg zunächst heftig und idealistisch mit den Kommunisten sympathisiert hatte, distanziert sich nach einem mehrjährigen Moskau-Aufenthalt von den Zielen der Partei. Er vertieft sich ganz und gar in sein Erbe, „Das Elixier der Unsterblichkeit“. Was er darin liest, erfüllt ihn mit Stolz. Mit Stolz darüber, dass sein Nachname über Jahrhunderte hinweg von Männern getragen worden war, die einen nicht „unwesentlichen Teil von Gottes großem Plan ausmachten“ und die große Bedeutung für Europas Entwicklung gehabt hatten. Dieses Erbe gibt er weiter an Ari, womit sich der Kreis schließt. Der kinderlose Enkel dreht aus jedem Blatt des Buches eine Zigarette und lässt es so in Rauch aufgehen, bis zur letzten Seite. Wie stand es schon in der Weissagung, die Benjamin Spinoza übertragen hatte: „Der erste Spinoza mischte lebensspendende Kräuter, der letzte wird das Erbe der Familie in Rauch aufgehen lassen“.
In diesem Familien- und Schicksalsbuch gibt es Liebesgeschichten, Geschichten von Lug und Trug und Verrat, Geschichten von selbstloser und aufrichtiger Hilfe, ernsthaft, ironisch oder augenzwinkernd berichtet, kurz, Geschichten, die das ganze Leben aller Menschen einfangen. Onkel Fernando rechtfertigte sich immer wieder, wenn er den Kindern haarsträubende Episoden erzählte: „Die Wirklichkeit übertrifft die Fantasie. Wenn man weiß, was geschehen ist, braucht man keine Geschichten zu erfinden…“
Trotz einiger Längen habe ich das Buch mit großem Vergnügen gelesen. Gleichmann wirbelt Historie und Jahrhunderte munter durcheinander, erfindet am roten Faden der Zeit mögliche und unmögliche Begebenheiten, so dass am Ende ganz klar ist: Die Juden sind das Gedächtnis Europas, weil sie alle geschichtlichen Ereignisse mitgemacht, mitbestimmt, oder am eigenen Leibe erfahren haben.

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