Rezension: Polcz, Alaine – „Frau an der Front“

Ein Bericht
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer
Verlag Suhrkamp, 2012
ISBN: 978-3-518-42306-6
Originaltitel: Asszony a fronton. Egy fejezet élemből, 1991 & 2005
Bezug: Buchhandel, Preis: Euro 22,95

Von diesem Buch kommt man so schnell nicht wieder los: „Frau an der Front“, die Leiden einer jungen Frau, die 1944 auf der Flucht in die Frontlinie gerät. Die Autorin schreibt direkt und ohne Pathos. Die schrecklichsten Dinge habe sie gar nicht aufgeschrieben, wie sie sagt. Fünfundvierzig Jahre später erzählt sie von diesen Monaten auf der Flucht. Vorher durfte in Ungarn nicht darüber gesprochen werden – unsagbar, dass das siegreiche Brudervolk, die Sowjets, sich so bestialisch benommen hätten: „In Ungarn löste das Buch 1991 bei seinem Erscheinen ungläubiges Entsetzen aus“, wie es in der Verlagsinformation heißt – „obwohl es doch bekannt war. […] Inzwischen ist das Buch in elf Sprachen übersetzt und zählt heute zu den bedeutendsten Lebenszeugnissen von Frauen aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs in Mitteleuropa“.

Ende März 1944 heiratet Alaine Polcz in Kolozsvár/Siebenbürgen den angehenden Dichter und Journalisten János. Sie ist sehr verliebt, spürt aber bald, dass er sie nicht liebt. Er spricht kaum mit ihr und beachtet sie nicht. Bis zum Ende ihrer Ehe weiß Alaine nicht, warum er sie eigentlich geheiratet hat. Schon auf der Hochzeitsreise betrügt János sie und steckt sie an mit Gonorrhö. Alaine fühlt sich sehr unsicher und allein, vertraut sich aus Scham aber niemandem an.
Einmal, 45 Jahre später, muss sie darüber reden – nach so vielen Jahren – obwohl sie inzwischen darüber steht – aber es beschäftigt sie; ihre unglückliche grausame Ehe und das brutale Leben zwischen den Fronten:
Schon bald nach ihrer Hochzeitsreise besetzen deutsche Soldaten Klausenburg. Alaine fängt an sich zu fürchten, als ihre Freunde den gelben Stern tragen müssen und verschleppt werden. Chaos bricht aus. Das Ehepaar versucht zu helfen und zu retten, doch viel können sie nicht tun. Währenddessen geht bei der „normalen“ Bevölkerung das gesellschaftliche Leben weiter, Theater, Kino, Restaurantbesuche, Ausflüge – bis zum 23. August, als die rumänische Regierung den Pakt mit Hitler aufkündigt und sich mit den Sowjets verbündet. Die Ungarn im Land sind in Gefahr und die Familie entschließt sich zur Flucht nach Budapest. Dort kommen sie im September unter ständigen Fliegerangriffen an. „Erzähle ich zuviel von Luftangriffen? […] Die Vorstellung, dass die Atombombe aus großer Höhe abgeworfen wird und schön still herabsegelt, wirkt beruhigend auf mich […] keine Todesschreie … und wir würden einfach zu Asche. Kein Wort der Klage käme über meine Lippen.“
Die Beiden fahren weiter nach Csákvár, zu János Mutter, die dort im Esterházy-Schloss Haushälterin ist. Mit der gütigen, herzlichen Mami versteht sie sich gut. Zusammen werden sie noch viel aushalten müssen. „Mami war das anständigste Geschöpf, das ich jemals kennen gelernt hatte“. Das Schloss in Csákvár steht unter dem Schutz des Schweizerischen Roten Kreuzes und Alaine als ausgebildete Krankenschwester engagiert sich, bis das Lazarett weiterziehen muss.
Es wird Winter, die Front rückt näher, die Deutschen besetzen das Schloss. Die kleine Familie zieht in eine leer stehende Forsthütte, bringt die französisch-jüdischen Kriegsgefangenen in Sicherheit. Am 1. Weihnachtsfeiertag tauchen die Russen auf, nehmen alles an sich, was sie brauchen können; sie leben mit den Flüchtlingen zusammen: Tag und Nacht – ein ewiges Gehen und Kommen, die Trupps lösen sich ständig ab: einmal kommen rumänische Soldaten, dann wieder die Russen. – Alaine lernt schnell etwas Russisch – und versteht, dass alle auf Stalins Gesundheit einen Schnaps trinken müssen, sonst seien sie Feinde. „Herrgott, wie naiv ich damals war, ich ahnte nicht, dass man sich vor ihnen fürchten musste.“
Eines Tages wird János mit anderen Männern von Partisanen verhaftet. Da nun die Männer weg sind, haben die Russen freie Hand: Sie fordern Alaine auf, mitzukommen. „Ich wusste genau, was sie wollten, ich weiß nicht woher, aber ich wusste es.“ Sie wehrt sich, aber es nützt ihr nichts. „Ich weiß nicht, wie viele Russen danach noch über mich drübergingen, auch nicht wie viele davor. Als es dämmerte, ließen sie mich allein“. „[…] Es war Gewalt.“ Sie holen jede Frau, selbst Mami – die Frauen werden krank, manche sterben. Auch Alaine wird krank, steckt sich bei den Soldaten an. Die Tage reihen sich endlos aneinander, dazu der Hunger, der Durst. Wasser gibt es nur zum Trinken, nicht zum Waschen. Es wird geschossen – oder es ist still. Mal fallen die Russen über sie her, mal die Deutschen. Manchmal möchte sie sterben, aber so schnell stirbt man nicht! Die Frauen brauchen immer wieder etwas Lebensnotweniges von den Russen, dafür müssen sie sich hinlegen. Mami hat Milch nötig: „Für einen Becher Milch habe ich mich hingelegt“. […] Auch die Matratze hatte ihren Preis. […] Im Krieg wird man sich selbst zum Monstrum“.
Manchmal werden sie auch von den Russen geholt, um im gefrorenen Boden Schützengräben auszuheben. Eines Tages, als sie schon fast am Verhungern ist, schenkt ihr eine Frau Brot: „Das Glück des Brotes, das Glück des Essens, das Glück der Güte“.
Schloss Esterházy wird schwer demoliert. Deutsche und Russen lassen ihre Wut daran aus. Die Russen fordern sie als Krankenschwester. Grauenvolles muss sie sehen – sie mag es nicht niederschreiben.
Schließlich wird das Dorf evakuiert. Zu dritt machen sie sich auf den Weg nach Budapest. Nach Csákvár kommt es ihr dort geradezu geordnet und friedlich vor.
Alaine ist völlig verdreckt, verlaust und krank. Erleichtert, dass ihre Mutter am Leben ist, kann sie sich nicht mehr freuen, alles ist ihr gleichgültig geworden. Die Mutter will nicht glauben, dass die Russen allen Frauen Gewalt angetan hatten. Sie verbittet es sich, solche „Witze“ zu machen.
Irgendwann rappeln sie sich auf und brechen auf nach Kolozsvár, die Mutter, der Bruder Egon, seine Frau Márta und Alaine.
Unterwegs müssen sie umsteigen, versehentlich streift sie die Seidenstrümpfe einer Frau, die sich darüber schrecklich aufregt. – Der ganz normale Wahnsinn. – Alaine ist verblüfft; ihr wird klar, dass auch diese Welt bereits wieder existiert. „Meine Probleme waren viel bedrängender. Ich konnte aus dem Dunstkreis von Tod, Hunger und Schmutz noch nicht heraustreten.“ In Kolozsvár herrscht bereits Frieden, mit ausreichend Lebensmitteln, in den Schaufenstern schöne Auslagen. Alaine würde sich gern an der Universität einschreiben, sie will ja Ärztin werden, doch die Fieberschübe beginnen wieder; sie wird todkrank, hat Wasser in der Lunge, Bauch- und Brustfellentzündung. Von ihren Erfahrungen vermag sie nichts zu erzählen, das hier ist eine andere Welt – man würde ihr nicht glauben. Hier haben sie keine Angst vor den Russen. – Alaine ist sich sicher, dass sie bald sterben wird – darüber sprechen darf sie nicht; der Tod ist tabu. Als es ihr besonders schlecht geht, hat sie die Vision des „Totenkreuzes“: Sie sieht ihr ganzes Leben wie durch ein umgedrehtes Fernglas – alles rückt in die Ferne, wird leicht und unwichtig. Alle ihre Lebensentwürfe, alles was sie durchgemacht hat, schrumpft winzig klein zusammen – „das war keine Gleichgültigkeit, keine Apathie, sondern das Erkennen einer anderen Zeitdimension. […] Dieses befreiende, leichte Gefühl, diese Erkenntnis, dass es egal war, ob zwanzig oder achtzig Jahre – das erfüllte mich mit Freude und gab mir Ruhe.“
Allmählich bessert sich ihr Zustand, sie will wieder leben und sie schreibt sich für Psychologie ein, als ihr klar wird, dass sie ein Medizinstudium nicht durchstehen würde.
1945 wird Siebenbürgen Rumänien zugesprochen, für die Ungarn ein harter Schicksalsschlag. Alaine geht illegal über die Grenze, um János zu sehen, der in Kriegsgefangenschaft ist. Nach seiner Freilassung schleust sie ihn in Siebenbürgen ein – doch vergebens. Ungarische Bürger bekommen keine Pässe, keine Arbeitserlaubnis. Sie müssen wieder fliehen – seinetwegen. Sie selbst wäre nie auf die Idee gekommen, Siebenbürgen zu verlassen. Ihr wird klar, dass sie den gefühlskalten Mann verlassen muss, wenn sie nicht zugrunde gehen will, gerade, weil sie ihn immer noch liebt. Drei Jahre lang verbringt sie schwerkrank im Bett, bis sie Miklós Mészöly kennen lernt, der sie wieder ins Leben zurückholt. 1949 heiraten sie.
Nach 45 Jahren, als sie ihre Geschichte endlich erzählen kann, sieht sie „meine Ehe im Krieg wie ein privates Fresko, an die Mauer Weltgeschichte gepinselt“.

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