Rezension: Tóth, Krisztina – „Strichcode“

Fünfzehn erzählte Begebenheiten
Aus dem Ungarischen von Ernő Zeltner, mit einem Nachwort von Péter Nádas
Verlag Bloomsbury-Berlin Verlag, 2011
ISBN: 978-3-8270-1054-4
Originaltitel: Vonalkód
Bezug: Preis: Euro 19,80

Die Lyrikerin Krisztina Tóth hat sich in Ungarn bereits mit ihren Gedichten einen Namen gemacht. Diese 15 Begebenheiten sind ihr erster Prosaband, hinter dem man ebenfalls die Dichterin spürt. Sie macht aus jeder Einzelszene eine ganze Geschichte, setzt Lebenslinien, ganz aus dem Verständnis der jeweiligen Protagonistin, die immer die selbe sein könnte. Dabei sind die Episoden nicht chronologisch geordnet, sondern so, wie man sich plötzlich an verschiedene Erlebnisse aus Kindheit und Jugend erinnert. Alle Erzählungen spielen in der späten Kádár-Zeit, während des sogenannten Gulasch-Kommunismus: Güter aus dem Westen waren begehrt, doch meistens unerreichbar. Besonders Dinge mit einem Barcode, der in den 80er Jahren aufkam, erschienen wie aus einer fernen, geheimnisvollen und unerreichbaren Welt. Im Verlagstext heißt es dazu: „Dem Kindheits-Ich, das durch diese Geschichten huscht, war der Strichcode ein vertrautes Geheimnis. Ein untrügliches Erkennungsmerkmal für Waren aus dem Westen, […] zugleich ein rätselhaftes Zeichen, von dem es hieß, es erfasse die Dinge in ihrem Wesen.“ – Und Kristina Tóth erfasst die Dinge in ihrem Wesen. Da sie als Ich-Erzählerin schreibt, wirken ihre Begebenheiten autobiografisch und sehr authentisch. Sie sind brutal, drastisch und derb, skurril und fremd, aber auch ironisch und situationskomisch. Alle Erzählungen haben einen Untertitel, der mit Linien zu tun hat. Mit diesen Linien kartografiert Kristina Tóth die Linien des Lebens, die Linien von Enttäuschung, Verlust, Missverständnis, Krankheit und Tod. Der Begriff „Todesarten“ fällt mir beim Lesen immer wieder ein, wobei nicht nur der tatsächliche, der physische Tod gemeint sein muss, sondern auch die psychische Verletzung: „Ich bin 1000 Tode gestorben“ – ist ein Sprichwort, wenn man in die Enge getrieben oder bloßgestellt wird. Oder: „Abschied ist ein kleiner Tod“.
Die Autorin lässt ihre Erzählungen beginnen mit einem Erlebnis, das sie als 20jährige hatte: Ein alter Mann, der weiß, dass er sterben würde, bittet sie zum Abschied um einen Kuss. Sie tut, als hätte sie nicht verstanden, ekelt sich vor Alter und Absterben. Später, als ihr dieser Zwischenfall wieder in den Sinn kommt, weiß sie: „Ich war 20, unwissend, eine stolze Halb-Erwachsene, begriff nicht, dass er einen Abschiedskuss erwartete [ ] von der Lebenden ein allerletztes Geschenk“.
Schon in der nächsten Erzählung berichtet sie von den Kränkungen in ihrer Kindheit, wie sie beschuldigt wird, einen Schulkameraden geschubst zu haben, so dass er stürzt und sich verletzt. Sie wird als „Schuldige“ auserwählt, weil immer jemand schuld sein muss: (Ihr) „Name wird jetzt für immer und unabänderlich die Person bezeichnen, die Rudas zu Boden gestoßen, die trotzig geschwiegen hatte“. Von nun an ist ihr der eigne Name seltsam fremd, hat nichts mehr mit ihr zu tun. Und wer einmal schuldig war, wird es auch wieder. Als einer Mitschülerin das Federmäppchen aus dem Westen abhanden kommt, meldet sie sich als Täterin, um der erniedrigenden Erpressung durch den Lehrer ein Ende zu machen.
Oft ist es zurückgewiesene Liebe, Verrat, Betrug und Treuebruch, den sie in ihren Erzählungen thematisiert. Dabei ist es egal, ob sie dies als Kind, Jugendliche oder erwachsene Frau erlebt hat.
Die Politik wird zwar nur am Rande gestreift, als sie zufällig aus einer im Hintergrund laufenden Fernsehansage erfährt, dass Kádár (1989) gestorben ist, aber die Historie und das Leben in dieser sozialistischen Gesellschaft ist immer präsent: So erfährt das Kind erst durch Zufall, dass die grässlichen Narben auf dem Bauch des Vaters doch nicht von einem Unfall herrühren, sondern weil auf ihn geschossen wurde, beim Versuch das Land illegal zu verlassen. Der Vater war damals 14 Jahre alt gewesen, und als Einziger von mehreren Jugendlichen am Leben geblieben. Man liest von den trostlosen 10-Etagen Mietshäusern, die alle gleich aussehen, gleich eingerichtet und sehr hellhörig sind. Man erfährt von Armut und Dreck, etwa in der Geschichte, als das Kind bei der Großmutter leben muss, während die Mutter im Krankenhaus liegt – und wieder eine Totgeburt hat. Die Großmutter ist eine Messie, die alles sammelt und aufbewahrt, mit ihrem Lebensgefährten Ameisenstraßen kartografiert, dabei aber das Mädchen völlig verwahrlosen lässt. Nur so wird erzählt, dass die Großmutter selbst ein Kind verloren hat – es war verhungert.
Auch die Erzählung „Das Schloss“ bringt uns die sozialistische Gesellschaft nahe, als das Mädchen zu den Auserwählten gehört, welches die Ferien in einem kommunistischen Ferienlager verbringen darf: Alles wird ihnen abgenommen und verteilt, es herrscht Drill und Interesselosigkeit. Als das Kind an einer Blutvergiftung erkrankt, bekommt es lediglich Vitamintabletten. Und als es in der Nacht fiebrig nach der Aufsichtsperson sucht, sieht es voll Unverständnis die „Tante“ mit dem Doktor: „so als hätte er beim Schubkarrenfahren gerade erst ihre Beine losgelassen“.
Die Titelerzählung „Lauwarme Milch – Strichcode“ führt uns geradewegs zum Kern der damaligen Sehnsüchte. Die Jugendliche erwartet ein Mädchen aus den USA als Gast. Nicht nur, dass sie sich mit ihr kaum verständigen kann – sie muss ihr Zimmer gastfreundlich abtreten und sich auf den verwöhnten Gast einstellen. Der bringt Unruhe in ihr Leben, spannt ihr den Schulkameraden aus. Ihretwegen wird sie von der Lehrerin vor der ganzen Klasse bloßgestellt. Sie rächt sich zwar, indem sie der Lehrerin eine zu Herzen gehende Geschichte ihrer angeblichen Leukemiekrankheit auftischt, doch der Triumph währt nur, bis sie zu Hause ist. Da würde sie sich am liebsten das Leben nehmen.
Die Geschichten reißen den Leser mit und werden ihn noch lange beschäftigen: etwa von der unglaubliche Gleichgültigkeit der Behörden, die aus giftiger Hochofenschlacke einen Schlittenbahnhügel errichten lassen. Die Kinder lieben das schwarz glitzernde Material – unsere Erzählerin schnitzt sogar Perlen und kleine Kunstwerke daraus, oder wie in diesem vergifteten Klima von Spitzelei und Angst der Vater nicht einmal seinen Sohn schützen möchte.
Bewegend die Erzählung, wie sie als junge Frau nach Japan fliegt. Im Reiseführer hatte sie gelesen, dass Touristen immer erstklassig behandelt würden, doch bereits bei der Einreise nehmen die Zollbeamten ihr Gepäck ganz und gar auseinander, ohne ihr mitzuteilen, weswegen. Doch die Reise wird trotz allem sehr wichtig für sie; kann sie hier doch endlich alle ihre unerfüllbaren Wünsche begraben.
Eine der stärksten Episoden spielt in Paris. Auch hier die Demütigung der Fremden im Einwandererbüro. Sie lebt als Stipendiatin von einigen Übersetzungen in einem elenden Loch, welches ihre Vorgängerin total vergammelt hinterlassen hatte. Die junge Frau geht kaum aus, spricht nur mit wenigen Menschen, isst wochenlang das gleiche billige Gericht. Neben ihr wohnt ein Mann, ein Widerling, der die Toilette grundsätzlich unsauber verlässt. Als die Beiden eines Abends wütend aufeinanderprallen und sich beschimpfen, beginnen sie plötzlich eine wilde Affäre. Sie spürt: Weder mit ihr noch mit ihrem Freund Miklós, der ohnehin inzwischen zum Phantom geworden ist, hat das zu tun. Der Fremde kommt ihr vor wie ein Nachtmahr, der am Tag wieder verschwindet. Als Miklós eines Tages zu Besuch kommt, gehen sie zusammen in eine Bar: Dort spielt der Fremde in einer Band, als Saxophonist.
In den meisten Geschichten fühlt sich die Erzählerin verlassen, verprellt, hintergangen – Todesarten des Lebens eben.
Ein lesenswertes Buch, in dem man sich wohl manches Mal selbst wieder erkennt; denn wer hätte sich nicht schon ungerecht behandelt, bloßgestellt oder hintergangen gefühlt. Aber wie Krisztina Tóth daraus eine Geschichte macht, das ist eben ihre Kunst.

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